Geschichten

An dieser Stelle poste ich kurze Geschichte, die ihr umsonst lesen könnt. Manchmal wird aus diesen Geschichten ein Buch. Manchmal dienen sie mir zur Inspiration. Und manchmal sind sie einfach nur Zeitvertreib.

Viel Spaß!

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Der Nix im Wintersee

Silja sah sich um und atmete die eisige Stille des Morgens. Die Welt lag im Zwielicht.

 

Die Sonne schaffte es in dieser Jahreszeit niemals über den Rand des Horizonts hinaus und so schien es, als lägen der Himmel und die Welt unter ewig grauen Schleiern verborgen. Die einzigen Geräusche in der gefrorenen Landschaft waren das Knirschen des Schnees unter Siljas Stiefel, und ihr keuchender Atem, als sie mit raschen Schritten zum See hinunterlief. In ihrer Hand baumelte ein verbeulter Eimer, in dem eine Angelrute und ein Eispickel steckten und an dessen Boden sich fette Maden wanden.

 

Frierend zog Silja ihre fellgefütterte Jacke um sich. Das Kleidungsstück war alt und löchrig. Der Wind fand seine Schwachstellen mit grausamer Präzision, huschte hindurch und biss in ihre schutzlose Haut. Silja presste die Kiefer zusammen um zu verhindern, dass ihre Zähne unkontrolliert aufeinander schlugen und stapfte mit grimmiger Miene weiter, bis sie an das Ufer des Sees gelangte. Braune Schilfrohre hingen kraftlos zwischen dem Eis gefangen. Sie knisterten und brachen, als Silja die Halme zur Seite schob und zwischen ihnen hindurch auf das gefrorene Wasser trat.

 

Eine feine Schneeschicht lag über dem Eis. Vorsichtig setzte Silja ihren Weg darauf fort, doch schon nach kurzer Zeit beschleunigten sich ihre Schritte, bis sie schnell wie der Wind über das Eis stob und das Ufer und die Hütte hinter ihr zu einem Streifen am Horizont schmolzen.

 

Silja lächelte. Nur so weit draußen auf dem Wasser konnte sie frei sein. Hier war die Luft kristallklar und rein, nicht verraucht und abgestanden wie in der Hütte.

 

Doch schon bald zwang Erschöpfung sie zum Anhalten. Schwer atmend kam sie zum Stehen, schaute sich um und stampfte mit dem Fuß auf. Wie Rauch wirbelte der Schnee auf der Eisfläche um ihren Fuß. Sie zuckte die Schultern und stellte den Eimer mit dem Eispickel, der Angelrute und den Ködern ab. Diese Stelle war so gut wie jede andere.

 

Sie nahm den Eispickel in beide Hände, wappnete sich gegen den Aufschlag und ließ ihn mit aller Kraft auf das Eis niedersausen. Krachend schlug er auf, brach jedoch bloß einen Splitter aus dem Eis. Silja seufzte. Das würde ein hartes Stück Arbeit werden, doch sie war harte Arbeit gewohnt und so biss sie die Zähne zusammen und holte wieder und wieder aus, bis das Eis unter ihren Schlägen in tausende Kristalle zersprang. Die Geräusche ihrer Hiebe verklangen ungehört in der Weite der Winterlandschaft.

 

Ein letzter Hieb, dann durchbrach der Pickel die Eisschicht des Sees und tauchte ins Wasser. Silja atmete auf und streckte ihren Rücken. Der Rest würde einfacher werden. Sie hackte und schlug, bis sie ein Loch von der Größe des Eimers geschaffen hatte. Dann legte sie den Pickel beiseite und hob die Angelrute auf. 

 

Silja bückte sich nach einer Made und spießte sie auf den Haken. Das Loch lag vor ihr wie eine offene Wunde im Eis. Gerade setzte Silja dazu an, die Angelschnur ins Wasser tauchen, da schoss ein Schatten unter ihren Füßen entlang. Mit einem Fluch auf den Lippen sprang sie zurück. Der Fisch war groß gewesen. Viel zu groß! Größer als sie selbst.

 

Ihr Herz klopfte, als habe sie einen Geist erblickt und ihre Brust krampfte sich zusammen. Silja schloss die Augen und zählte die Schläge ihres Herzens, wie sie es immer tat, wenn sie Angst hatte oder Schmerzen. Nach einer Weile beruhigte sich ihre Atmung, der Druck in ihrer Brust ließ nach und sie schlug die Augen wieder auf.

 

Die Angelschnur lag wie eine leblose Schlange neben ihr auf dem Boden und die Made an ihrem Ende starrte vorwurfsvoll zu Silja hoch. Mit zitternden Fingern hob Silja sie auf und schüttelte den Kopf. Sie hätte sich nicht so erschrecken sollen. Bestimmt hatte sie sich ohnehin geirrt, denn so große Fische gab es nicht. Seufzend ging sie vor dem Loch in die Hocke, streifte sich die schulterlangen Haare hinter die Ohren und ließ die Angelschnur samt Made untertauchen.

 

Für lange Zeit geschah nichts.

 

Silja hockte da, fror und starrte auf die Wasseroberfläche ihres Lochs, das die Made diesmal klaglos verschluckt hatte. Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum und runzelte die Stirn. Vielleicht bissen die Fische eher an, wenn sie an der Angelschnur zupfte? Oder vielleicht sollte sie ihnen etwas vorsingen, das sie anlockte? Silja überlegte, was für ein Lied den Fischen wohl gefallen würde und kramte in ihrem Gedächtnis nach der Zeit, in der es abends am Feuer noch Musik und Gelächter gegeben hatte.

 

Ihr fiel kein Lied ein. Keine Melodie, kein einziger Vers, nicht mal ein Reim.

 

Tränen tropften auf ihre Fellhandschuhe und gefroren zu Eis. Es war sogar zu kalt zum Weinen. Trotzig wischte Silja sich über die Wangen und zwang ihre Gedanken in andere Bahnen. Es war töricht der Vergangenheit nachzuhängen, töricht und dumm.

 

Sie blickte stumm auf das Eis und suchte in den Mustern und Formen nach einem verborgenen Sinn, mit dem sie ihren Geist von der Kälte in ihrem Körper ablenken könnte. Das Eis war zehn Finger dick und sie konnte nichts darunter erkennen, außer der eintönigen Schwärze des Seewassers.

 

Mit einem Mal begann das Eis zu flimmern wie zu helle Sonnenstrahlen auf einer fernen Fläche. Silja rieb sich mit den Fellhandschuhen über die Augen, weil sie befürchtete, dass sie noch immer weinte und die Tränen ihr die Sicht verklärten. Sie zog die Handschuhe zurück.

 

Das Eis leuchtete und wurde durchsichtig und dann … schmolz es. Es löste sich auf, floss auseinander und vereinte sich mit dem See aus dem es entstanden war, bis Sija ein Loch von der Größe eines Sarges vor sich hatte. Weshalb ihr ausgerechnet dieser Vergleich in den Sinn kam, wusste sie nicht. Vielleicht war es die längliche Form des Loches oder die Schwärze des Seewassers, das nach den Spitzen ihrer Stiefel leckte.

 

Gebannt schaute sie auf das Wasser. Etwas schimmerte durch das Dunkel zu ihr empor, wie der blasse Schein des Mondes, der sich hinter rauchigen Wolken versteckt. Unfähig die Augen von dem seltsamen Glanz abzuwenden, hockte Silja da und beobachtete mit pochendem Herzen und tauben Beinen, wie er näher und näher zur Oberfläche aufstieg.

 

Der Mond aus dem See entpuppte sich als ein Schopf mit weißem Haar. Und es gehörte zu einem Gesicht. Länger und schmaler, als das eines Menschen war es, mit einer Haut wie poliertem Elfenbein und doch, unverkennbar, ein Gesicht. Hohe Wangenknochen, ein schmales Kinn und volle Lippen mit großen, schwarzen Augen darüber, ließen Silja erkennen, dass sie niemals zuvor Schönheit erblickt hatte. Bis zu diesem Moment. Sie vergaß zu atmen.

 

Weißes Haar, dick wie Algen lag um seinen Kopf, umfloss seine Schultern und fiel über seinen Rücken und die Brust ins Wasser, wo es schwerelos zu allen Seiten ausfächerte. Er schwamm nicht, er schwebte im Wasser und er streckte ihr seine Handfläche entgegen.

 

Silja beugte sich vor und spähte darauf. Umspült von klarem Seewasser, lag ein einzelner, silberner Stein von der Form eines Tropfens auf seiner Hand. Ihre Träne.

 

Angst schoss wie flüssiges Feuer durch Siljas Adern. Sie wollte von dem Loch wegkriechen, doch etwas riss sie zurück. Eine weiße Hand hatte sich um ihr Fußgelenk geschlossen.

 

In den langen Wimpern des Nix glitzerte das Eis, als er sie unendlich langsam schloss und wieder öffnete. Silja lag halb auf dem Rücken, auf ihre Ellbogen gestützt und starrte auf seine Finger. Sie waren stark, und wie der Arm und die Schulter, die aus dem Wasser ragten. Schlank, doch muskulös.

 

„Du bist unglücklich.“

 

Seine Stimme klang wie Öl, das über Kiesel floss, oder wie das träge Schwappen von Wellen an einer Uferböschung. Er sprach zu ihr wie man zu einem geliebten Menschen spricht, doch seine Worte schabten gefährlich wie Eiskristalle über ihre Haut. Hinter ihnen lag mehr Macht, als Silja verkraften konnte.  

 

„Komm mit mir in den See“, wisperte der Nix und der kalte Wind trug seine Worte an ihr Ohr. „Es ist so einsam in diesem Wasser, wenn die Oberfläche gefroren ist.“

 

Silja blickte wie gebannt auf das Wesen und konnte sich nicht regen. War sie auf dem Eis eingeschlafen und in die Welt der Träume gesunken?

 

„Mein Reich ist still und ruhig“, lockte er und zupfte an ihrem Hosenbein. „Sehnst du dich nicht nach diesem Frieden? Sei bis zum Frühling mein Gast, Menschenmädchen.“

 

Die Worte weckten Silja endgültig aus ihrer Erstarrung.

 

„Es ist zu kalt für mich“, brachte sie hervor. „Ich würde erfrieren.“

 

Der Nix hob eine weiße Augenbraue und ließ von ihr ab. Sein Körper sank bis zum Kinn in den See zurück. „Es ist eiskalt“, flüsterte er und blies auf das Wasser. Ein winziger Sturm aus Eiskristallen wirbelte darüber. Der Nix lächelte und Silja erschrak.

 

Seine Zähne waren spitz und lang wie bei einem Raubtier und sein Zahnfleisch dunkel wie seine Augen. Schwarze Opale, in denen ein bläuliches Licht tanzte; das gefrorene Blau der Tiefen. Silja war gefangen von diesen Augen.

 

Bevor sie wusste, wie ihr geschah, war sie zurück an den Rand des Wassers gekrochen. Der Nix hob sich ihr entgegen, als sei er ein Magnetstein, der von ihr ebenso angezogen wurde, wie sie von ihm. Seine Lippen waren leicht geöffnet und als er die Hand ausstreckte und mit den Fingerspitzen über ihren Hals strich, entstanden Eisperlen auf Siljas Haut und kullerten in ihren Nacken.

 

Ein Schauer jagte ihr den Rücken hinunter, sie schüttelte sich und dabei fiel ihr Haar über ihre Schultern nach vorne. Reflexartig griffen die Finger des Nix danach, doch Silja war schneller und zog den Kopf zurück.

 

Er öffnete den Mund als wolle er protestieren, runzelte dann jedoch die Stirn und stieß sich vom Rand des Loches ab. So schwebte er im Wasser und schien zu schmollen.

 

„Menschenmädchen“, sagte er in amüsiertem Ton, in dem jedoch ein leichter Tadel mitschwang. „Willst du dich mir verweigern?“

 

Silja presste ihre Lippen aufeinander und blieb stumm. 

 

Der Nix kniff die Augen zusammen, lächelte sein Raubtierlächeln und glitt näher heran. Seine Hand streckte sich aus dem Wasser und legte sich um Siljas Handgelenk, wie die Arme eines Kraken, die sich um sein Opfer schlingen. 

 

„Ich würde ertrinken“, japste sie.

 

Weiße Finger strichen über ihre Haut und die Härchen auf ihrem Arm stellten sich auf. Der Nix schob den Ärmel ihrer Jacke zurück und betrachtete sie, fasziniert wie ein Kind, das zum ersten Mal eine Schneeflocke sieht und sich alle Zeit lässt, ihre andersartige Schönheit zu bewundern.

 

In Siljas Kopf rasten die Gedanken. Sie würde diesem Wesen durch Schnelligkeit oder Kraft nicht entkommen können. Und entkommen musste sie, sonst erwartete sie der feuchte Tod.

 

„Wie ist dein Name?“, fragte sie, einer spontanen Eingebung folgend. Namen gaben einem Sicherheit und manchmal Macht, das hatte ihre Großmutter sie gelehrt. Silja hoffte inständig, dass sie Recht behalten würde.

 

Der Nix schaute von ihrer Hand auf. Seine großen, schwarzen Augen musterten sie gelassen.

 

„Jaru.“

 

Er sprach den Namen langsam, und tief in der Kehle. Das 'r' rollte er leicht und das 'u' hallte noch lange nach und vibrierte durch das Eis, als erkenne es den Klang wie einen alten Freund.

 

Jarus Mundwinkel hoben sich in einem trägen Lächeln. „Wie nennst du dich, Menschenmädchen?“

 

Silja zögerte. Um Zeit zu gewinnen, kniete sie sich umständlich hin und klopfte Spuren von Schneestaub von ihrer Hose. Sie biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. Es wäre leichtfertig, ihm ihren Namen zu verraten. Unmerklich schob sie sich von dem Loch weg. 

 

„Ein Tausch“, wisperte der Nix und legte den Kopf schräg. „Sag mir deinen Namen.“

 

Seine Stimme hatte etwas an sich, dem Silja sich nicht entziehen konnte. Es war, als pflanze sie den Wunsch in ihr ein, ihm zu gehorchen, ihm alles zu sagen, alles zu geben, das sie ausmachte. Wie ein Schilfrohr, das sich im Wind biegt, gab sie seinem Drängen nach. 

 

„Silja“, sprach sie.

 

„Ah“, hauchte er. „Ein Wassername.“

 

Sie blinzelte. „Wie meinst du –?“

 

Da holte er aus und spritzte einen Schwall Eiswasser in ihre Richtung.

 

„Hey“, rief Silja empört, bevor sie sich eines Besseren besinnen konnte. Sie fiel von den Knien auf die Seite und hob schützend einen Arm vors Gesicht. Dann erstarrte sie. Was hatte sie getan? Nur die Eisgötter wussten, wie er reagieren würde, wenn sie ihn beleidigt hatte. Angstvoll spähte sie hinter ihrer Hand hervor.

 

Jaru warf den Kopf zurück und lachte.

 

Noch niemals hatte Silja solch eine majestätische Geste gesehen oder solch ein wunderschönes Geräusch gehört. Sein Hals war lang und schlank und eleganter als der eines Schwans. Doch sein Lachen. Oh, sein Lachen. Es klang wie Perlen eines Regenbogens, so facettenreich und unerklärlich schön. Klar und tief zugleich, voll ehrlicher Belustigung und so menschlich wie sonst nichts an ihm. 

 

Dennoch wagte Silja nicht, sich zu bewegen. Sie saß auf der Seite, die Beine angewinkelt, eine Hand aufs Eis gestützt und blickte auf ihn herab, wie ein schiffbrüchiger Seemann, der dem Charme einer Nymphe rettungslos erlegen ist. 

 

Sein Lachen ebbte ab. „Das bedeutet dein Name“, sagte er, den Schein des Gelächters noch immer in den Augen und seinen Klang in der Stimme.

 

Silja war viel zu überwältigt, um ihren Mund zu öffnen, geschweige denn, ihm zu antworten.

 

Das Gesicht des Nix wurde ernst und er glitt näher zu ihr heran. „Komm mit mir“, flüsterte er in verschwörerischem Ton „und ich verrate dir die Namen der Wellen.“

 

„Ich würde erfrieren“, murmelte Silja.

 

Er lächelte milde. Dann stützte er beide Hände auf das Eis, drückte sich daran hoch und beugte sich über sie. 

 

„Nein.“ Sein Atem streifte ihr Gesicht. Seine Haut bestand aus winzigen, glatten Schuppen. Sie glänzten wie Perlmutt im Winterlicht, jede von einem filigranen Muster durchzogen und keines wie das andere. Seewasser tropfte von seiner Gestalt und seinem Haar auf Silja herab.

 

Dann drückte er seine Lippen auf ihre und blies ihr seinen eisigen Atem in die Kehle. „Du liebst mich doch, mein Mädchen?“, flüsterte er an ihrem Mund.

 

„Ja“, sagte sie und ließ sich näher ans Wasser ziehen.

 

„Dann folge mir.“

 

Die Worte hallte in ihrem Kopf wider und vor ihrem geistigen Augen sah Silja, wie alle Angst und aller Schmerz ihres Lebens von ihr abfielen. Sie ließ die schäbige Hütte hinter sich, ihren zugigen Schlafplatz an der Tür, die Schufterei, die Schmähungen und Erniedrigungen, die sie Tag für Tag ertrug. Und die Schläge.

 

Ein weißer Arm war unter ihre Beine geglitten, der andere schob sich unter ihren Oberkörper. Der Nix würde sie hochheben und einfach mit ihr im See versinken.

 

„Warte!“, rief Silja und krallte ihre Finger ins Eis.

 

Er hielt inne, die Ellbogen auf das Eis gestützt. „Was ist mein Mädchen?“

 

„Benji!“, stieß sie hervor.

 

„Oh.“ Seine Arme glitten zurück ins Wasser, nur seine Fingerspitzen blieben auf dem Eis. „Der kleine Menschenmann?“

 

Silja nickte und ihr Herz wurde schwer. „Er ist mein Bruder. Ich kann ihn nicht allein lassen.“

 

Jaru legt den Kopf schräg und blinzelt, viel langsamer als ein Mensch es gekonnt hätte. „Aber sie behandeln ihn gut“, sagte er verwundert.

 

Und er hatte Recht. Benji wurde niemals geschlagen. Er durfte sogar neben dem Feuer schlafen, erhielt immer die besten Stücke vom Fleisch und die dicksten Kartoffeln. Silja hatte sogar einmal gesehen, wie ihr Stiefvater ihm einen verschrumpelten Winterapfel aus der Vorratskammer zugesteckt hatte.

 

„Ich, ich kann nicht“, stammele sie und fühle sich schrecklich.

 

Der Nix war bis zum Bauchnabel aus dem Wasser gekommen. Sein weißer Oberkörper glänzte im grauen Winterlicht und Wassertropfen perlten daran herab, als seien sie Schmuck, einzig für ihn entworfen, einzig für diesen Moment. 

 

„Aber du willst es“, erwidert er, umfasste ihren Fußknöchel und schob ihn zur Seite. Sein Körper glitt zwischen ihre Beine. Silja konnte die feinschuppige Haut durch den gefütterten Stoff ihrer Hose fühlen, als läge nichts zwischen ihnen. Er krallt seine Hände in die Hose bei ihren Knien und zog sie zu sich heran. Ihr linker Fuß fiel über den Rand des Lochs und landete platschend im Wasser.

 

Die Kälte des Seewassers breitete sich augenblicklich darin aus. Silja keuchte auf. Der Nix streckte eine Hand aus und griff nach ihrem Haar. Er zog die Strähnen zu sich heran und hielt sie vor seine ungewöhnlichen Augen. Unweigerlich musste Silja sich vorbeugen.

 

„Du willst es“, sagte er erneut und hauchte Eiskristalle auf die braunen Strähnen zwischen seinen Fingern. Sein Gesicht war so nahe, dass Silja jedes Detail darauf erkennen konnte. Das Muster der winzigen Schuppen auf seiner Haut, die Struktur seiner Lippen, die unergründliche Tiefe seiner Augen.

 

Ja, dachte sie, ich will es. Aber sie konnte nicht.

 

„Ich habe Angst“, sagte sie. „Angst, dass sie ihn schlagen, wenn ich weg bin, dass sich all ihr Unmut gegen ihn wendet.“ Tränen sammelten sich in ihren Augen und verklebten ihre Wimpern. „Besser ich bekomme die Schläge, als er.“

 

„Aber, aber“, murmelte Jaru und pflückte die Tränen von ihren Wangen, als seien sie Juwelen. „In meinem Reich würde es niemand wage, Hand an dich zu legen.“ Seine Stimme klang wie Gesang in Siljas Ohren. Wie konnte sie sich ihm verweigern? „Komm, komm, mein Mädchen, meine Silja“, lockte er verführerisch.

 

„Nein“, flüsterte sie.

 

Zwischen seinen Augenbrauen entstand eine steile Falte. Er ließ ihr Haar los. „Wie kannst du verleugnen, was du willst?“

 

Silja senkte den Kopf. „Es geht nicht“, sagte sie und wischte sich die letzten Tränen von den Wangen.

 

Weiße Finger wanderten über ihre behandschuhten Hände und zupften daran. Verwirrt sah sie auf.

 

Der Nix zog an ihren Handschuhen und im nächsten Moment fielen sie aufs Eis. Silja wollte protestieren. Es war zu kalt, um sie auszuziehen! Doch da umfasste er ihre Hände mit seinen und hauchte einen Kuss auf jede ihrer Fingerspitzen. Augenblicklich breitete sich eine wohlige Wärme darin aus und strömte von Siljas Händen die Arme hinauf und durch ihren Körper.

 

Überrascht atmete sie ein. „Wie –?“

 

„Du müsstest nie wieder frieren.“

 

Es war das süßeste Versprechen das Silja je gehört hatte. Sie schloss die Augen und weinte still. „Es tut mir Leid.“

 

„Das sehe ich“, sagte Jaru traurig.

 

Er ließ ihre Hände los und sofort kroch die Kälte zurück in ihre Glieder. Noch niemals zuvor hatte sie den Verlust von Wärme als so schmerzhaft empfunden. Mit zitternden Fingern hob sie ihre Handschuhe auf und streifte sie über.

 

Jarus Hände kamen hinzu und er half ihr, die Enden der Handschuhe unter die Jackenärmel zu schieben. Das schmale Gesicht des Nix war hart geworden. Seine vollen Lippen bewegten sich so nahe zu ihr heran, bis sie ihr Ohr streiften. Die Berührung war zart und flüchtig wie Schneeflocken.

 

„Ich lasse dich nicht gehen“, sprach er und zog sie mit sich.

 

„Nein!“ Mit aller Kraft stemmte Silja sich gegen seinen Griff, doch sie war zu schwach und das Eis bot keinen Halt. Unaufhaltsam zog der Nix sie auf den Rand des Loches zu, fest entschlossen wie ein Fischer, der den Fang seines Lebens in seinem Netz erblickt. Eiswasser schwappte über Siljas Hand und den Arm hinauf. Im nächsten Moment würde sie in den See fallen. Sie schrie auf.

 

Der Nix zuckte zusammen und hielt inne. „Wehr dich nicht“, sagte er, als würden ihm ihre Schreie Schmerzen bereiten. Eine Strähne seines algenartigen Haares hing ihm in die Stirn. Er hatte das Kinn gesenkte und sah sie verstört an, wie ein Kind, das nicht verstand, weshalb es bestraft wurde. „Weshalb wehrst du dich, meine Silja?“

 

Seine Finger schnürten ihr das Blut ab und pressten sich schmerzhaft in ihr Fleisch. Hilflos suchte Silja mit den Augen nach dem Ufer. Es war viel zu weit fort.

 

Doch in dem Moment sah sie etwas anderes in ihrem Augenwinkel. Sie streckte sich nach dem Eispickel und bekam ihn zu fassen, aber ihre Hände waren taub vor Kälte und die Handschuhe glitschig, beinahe hätte sie ihn wieder fallen lassen. Sie packte fester zu und riss den Pickel nach vorne.

 

Er saust durch die Luft und schlug hart wie ein Hammer, der einen Amboss trifft, auf die Hand des Nix. Jaru schrie auf. Es war ein grauenvolles Kreischen, hoch und schrill. Er ließ sie sofort los. Dunkles, öliges Blut lief über seinen Handrücken und auf das Eis des Sees.

 

Entsetzt über ihre Tat, kroch Silja rückwärts über das Eis, bis sie um eine Armeslänge von dem Loch weg war. Sie hatte Jaru nicht treffen wollen, oder gar verletzen, sie hatte ihm einzig drohen wollen mit der Waffe. Mit schreckensweiten Augen betrachtete sie die Wunde, die sie ihm geschlagen hatte.

 

Der Nix presste seine blutende Hand an den Körper. Sein stolzes Gesicht war eine Maske aus Schmerz und Wut und den Mund hatte er zu einem Knurren verzerrt.

 

Von Reue erfüllt hob Silja eine Hand vor ihren Mund. „Verzeih mir.“

 

Jarus zornige Augen fanden ihre, doch als er die Verzweiflung in ihrer Stimme erkannt und in ihrem Gesicht las, wurden seine Züge augenblicklich sanfter. Er legte den Kopf schräg und seufzte.

 

Dann tauchte er seine Hand in den See und als er sie wieder hervorholte, waren Eispickel und Wunde verschwunden.

 

Jaru lächelte geheimnisvoll. „Wir werden uns wiedersehen, mein Mädchen“, sprach er mit einer Stimme, die so alt klang wie der See selbst. „Komm zu mir, wenn das Eis geschmolzen ist und ich werde deine Wunden heilen.“

 

Dann versank er im Wasser.

 

Sobald sein weißer Haarschopf unter die Oberfläche getaucht war, zog sich eine bläuliche Schicht, schnell wie der Wind, über das Wasser und verwandelte es zurück zu Eis.

 

Silja rappelte sich hoch, drehte sich um und rannte.

 

Erst als sie die Uferböschung erreicht hatte und festen, körnigen Boden unter ihren Stiefeln spürte, wagte sie es, stehen zu bleiben und schaute zurück. Reglose Stille lag über dem gefrorenen See, als sei nie etwas geschehen. Einzig ihr keuchender Atem durchbrach die Ruhe. 

 

Silja schaute zur Hütte, die zwischen einer Gruppe Tannen am Waldrand kauerte. Es würde wieder Schläge geben, denn sie hatte nichts gefangen und der Eispickel war für immer auf dem Grund des Sees verloren. Auch die Angel und der Eimer lagen noch immer draußen, doch sie würde sie nicht holen. Sie traute sich nicht zu, dem Nix ein zweites Mal zu widerstehen.

 

Jaru.

 

Der Klang seines Namens war für immer in ihren Gedanken und sie wusste, wenn das Eis im Frühjahr schmolz, würde sie zu ihm gehen.

 

Inspiration

Die Inspiration zu dieser Geschichte stammt von Goethes "Der Fischer". Aber weshalb sollten immer die Frauen die Sirenen sein, die lockenden, verführerischen Wesen? Könnte es nicht auch andersrum geschehen?

Aufgrund dieser Gedanken entstand "Der Nix im Wintersee".

 Johann Wolfgang von Goethe, 1779

 

 Der Fischer

 

Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll,
Ein Fischer saß daran,
Sah nach dem Angel ruhevoll,
Kühl bis ans Herz hinan.
Und wie er sitzt und wie er lauscht,
Teilt sich die Flut empor:
Aus dem bewegten Wasser rauscht
Ein feuchtes Weib hervor.

Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm:
»Was lockst du meine Brut
Mit Menschenwitz und Menschenlist
Hinauf in Todesglut?
Ach wüßtest du, wie's Fischlein ist
So wohlig auf dem Grund,
Du stiegst herunter, wie du bist,
Und würdest erst gesund.

Labt sich die liebe Sonne nicht,
Der Mond sich nicht im Meer?
Kehrt wellenatmend ihr Gesicht
Nicht doppelt schöner her?
Lockt dich der tiefe Himmel nicht,
Das feuchtverklärte Blau?
Lockt dich dein eigen Angesicht
Nicht her in ew'gen Tau?«

Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll,
Netzt' ihm den nackten Fuß;
Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll
Wie bei der Liebsten Gruß.
Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;
Da war's um ihn geschehn;
Halb zog sie ihn, halb sank er hin
Und ward nicht mehr gesehn.