Aschefluch

Joesins Leben ist verwirkt.

 

Als er sich vor zwei Jahren gegen den Tyrannen Caruss stellte, wurde er gefangen genommen und von ihm verflucht. Es gelingt ihm zu fliehen, doch nun ist er ein Gejagter und heimatlos.

 

Als er von Prinzessin Moas Verlobung mit Caruss Sohn hört, schmiedet er einen folgeschweren Plan: Er entführt die Prinzessin, um das Bündnis der beiden Reiche zu verhindern und Moa als Druckmittel gegen Caruss einzusetzen.

 

Alles ändert sich jedoch, als Moa längst totgeglaubte Gefühle und Hoffnungen in ihm weckt und er erkennt, dass er sich Caruss nicht alleine stellen muss.

 

  

 

Prinzessin Moa verbringt ihr Leben behütet wie eine Porzellanpuppe hinter Glas im Königreich der Tausend Flüsse.

 

An ihrem sechzehnten Geburtstag soll sie Alawas heiraten. Die Verbindung sichert König Caruss die Zufuhr der Staubdiamanten, die er für die Erschaffung seiner furchtbaren Aschewesen benötigt.

 

Am Vortag ihrer Hochzeit wird Moa von Joesin entführt, doch mit der Zeit begreift sie, dass ihn mehr antreibt als Rache. Auf der Flucht wird ihr wortkarger Entführer zu ihrem Beschützer und sie kann nicht verhindern, dass sie sich mehr und mehr von ihm angezogen fühlt. Schon bald muss Moa eine Entscheidung treffen: Denn nur, wenn sie ihr eigenes Leben riskiert, hat sie die Chance, Joesins Leben zu retten und einen Tyrannen zu stürzen.

 


Die Herkunft der Greifen

 

„Als die Welt noch jung war“, erzählte Aeshin, „war der Ozean der einzige Ort, an dem es Leben gab. Riesige Fischwesen durchzogen seine unendlichen Gewässer. Sie hatten wunderschöne Schuppen, die glänzten wie poliertes Silber. Einige von den Fischwesen schauten in den Nachthimmel und sehnten sich danach, die Leere zu füllen. Denn dort oben gab es noch keine Sterne, sondern nur den Mond und er war einsam. Die Fischwesen beschlossen, ihre nasse Heimat zu verlassen und krochen an den Strand. Als der Mond das sah, fragte er sie, weshalb sie an Land gekommen waren. Die Fischwesen sagten, sie hätten seine Einsamkeit bemerkt und ebenso wie die Leere des Himmels bei Nacht, betrübe sie dies. Aus Dankbarkeit für ihre Anteilnahme schenkte der Mond den Fischwesen Flügel und so wurden aus ihnen die ersten Greifen. Da gaben die Fischwesen ihre silbernen Schuppen auf und schenkten sie dem Nachthimmel. Seitdem gibt es Sterne. Und wo sie zu Boden fallen, werden sie zu Staubdiamanten.“

 

 

Leseprobe

 

 

Kapitel 1

 

 

 

Der Festsaal des Schlosses war ein Märchenwald. Säulen, Galerien und Fenster waren mit ausladenden Blumengestecken geschmückt, deren süßer Duft wie eine Wolke über der Festtafel schwebte. Reihen von seidenbespannten Laternen zogen sich durch den Saal und baumelten von der Decke wie Lianen, während Kerzenflammen, verborgen zwischen Blüten und Blättern, aufflackerten. 

 

Schmetterlinge flatterten zwischen den Blüten hin und her wie lebendige Kunstwerke. Zuweilen ließen sie sich auf der Brosche einer Edelfrau, einem rubinbesetzten Weinkelch oder vor einer der Laternen nieder. Ihre Flügel warfen dabei zuckende Schattenbilder an die Wände und ließen sie zehnmal größer erschienen, als sie waren.

 

Moa saß am Kopf der üppig gedeckten Tafel und starrte auf die unberührten Speisen auf ihrem Teller. So sehr sie sich auch bemühte, es war ihr unmöglich, ihren Appetit zu finden.

 

Die einzige Person im Saal, die ebenfalls dem Wein und der überschwänglichen Stimmung entsagte, war ihr Verlobter, Prinz Alawas.

 

Jedes Mal, wenn Moa zu ihm hinüberschielte, überkam sie Mitleid für den Prinzen. Wie ein verschüchtertes Kind kauerte der Erbe der Krone von Cinann auf seinem Stuhl und nuckelte an seinem Wasserglas. Seine Gesichtszüge waren einst klug und ebenmäßig gewesen, doch seit dem Unfall an seinem fünfzehnten Geburtstag hingen sie schlaff herab. Sein braunes Haar glänzte wie früher, doch aus seinen Augen war das Licht verschwunden.

 

Moa senkte den Blick auf den Teller. Es tat weh, Alawas so zu sehen.

 

„Prinzessin Moa!“, dröhnte eine Stimme.

 

Sie hob den Kopf. Herzog Doness, der wenige Plätze von Alawas entfernt saß, schmetterte seinen Weinkelch auf die Tafel. Ein roter Schwall ergoss sich über die fleischigen Hände des Adligen aus Cinann und tränkte die weiße Tischdecke. Doch Doness schien es nicht zu kümmern. Er grinste breit hinter seinem fettigen Bart voll von Essensresten. 

 

„Lasst uns einen Kuss sehen“, brüllte der Herzog über den Lärm des Saales hinweg. „Einen Kuss, Kuss, Kuss!“

 

Rhythmisch hämmerte er seinen Kelch auf die Tafel. Wein spritzte in alle Richtungen und benetzte das Tischtuch und die Gäste, die das Pech hatten, neben ihm zu sitzen. Zu Moas Entsetzen wurde sein Ruf von den anderen Adligen aus Cinann aufgenommen und bald darauf klopften sämtliche Anwesenden mit flachen Händen auf die Tafel oder ihre Schenkel und riefen aus vollen Kehlen nach einem Kuss.

 

Moa saß wie erstarrt da. Anscheinend wussten diese Rüpel aus Cinann nicht, wie man sich an der Festtafel eines Königs zu verhalten hatte. Wenigstens auf der Seite der Adligen des Tals der tausend Flüsse konnte sie einige Zurückhaltung und sogar leicht beschämte Gesichter erkennen, doch die meisten von ihnen hatten in den Ruf eingestimmt.

 

„Kuss! Kuss! Kuss!“, schallte es durch den Saal.

 

Bestürzt blickte Moa zu Mahn, ihrem Onkel, dem König des Tals der tausend Flüsse. Sie erwartete, dass er dieses beschämende Spektakel jeden Moment beenden würde. Doch Mahn saß nur da, die Hände über seinem Bauch gefaltet und den Blick unbeeindruckt auf die lärmenden Gäste gerichtet.

 

Es fiel Moa leicht zu erraten, was er dachte.

 

Mahn hatte die Krone nie gewollt. Nur sehr widerwillig hatte er die Verantwortung für das Tal der tausend Flüsse übernommen, nachdem sein Bruder gestorben war. Das Kerzenlicht glänzte rötlich in seinem Bart und dem schwindenden Haar auf seinem Kopf. In den Fassungen seiner silbernen Krone glitzerten Splitter grauer Staubdiamanten. König Mahn sah alt und müde aus, doch froh darüber, dass er die Bürde seines Amtes endlich weiterreichen konnte. An sie. Mit ihrer Hochzeit würde Moa, gemäß dem Gesetz des Tals der tausend Flüsse, unweigerlich zur Königin und ihr Ehemann zum rechtmäßigen König werden.

 

Allein bei dem Gedanken stieg Übelkeit in Moa hoch. Denn obwohl ihr Onkel die Abneigung gegen sein Amt niemals überwunden hatte, war er ihr in all den Jahren wie ein Vater gewesen. Mahn hatte sie verhätschelt, von der Welt und all ihren Problemen ferngehalten und sie nicht im Geringsten darauf vorbereitet, Königin zu sein. Und Moa wollte, dass es so blieb. Sie hatte nicht vor, zu Ratssitzungen zu erscheinen, sich um Gesetze oder Steuern oder gar Gesetzesbrecher zu kümmern. Jegliche Politik war ihr zuwider.

 

Doch um sie herum trommelten die Gäste aus Cinann noch immer auf die Tische, klirrten ihre Kelche gegeneinander und brüllten nach einem Kuss.

 

Unter dem Tisch stieß Moa ihrem Onkel gegen die Wade. Er hob eine Augenbraue.

 

Moa nickte in Richtung des Prinzen und erlaubte ihrer Hilflosigkeit, sich auf ihrem Gesicht zu zeigen.

 

Mahn erwiderte ihren Blick gelassen. Er breitete die Hände aus und nickte auffordernd in Richtung des Prinzen.

 

Alawas war unter den beständigen Rufen der Gäste in seinem Stuhl zusammengesunken, als versuche er, sich vor ihren Stimmen zu verstecken. Er begriff nicht im Geringsten, was der Grund des Lärms war. Seine trüben Augen zuckten ängstlich durch den Saal.

 

Die Rufe schwollen an. „Kuss! Kuss! Kuss!“

 

Moa konnte ihr Unbehagen kaum mehr verbergen. Eigentlich war es die Aufgabe ihres Verlobten, der Forderung der Gäste nachzukommen, doch Alawas war dazu offensichtlich nicht in der Lage und dennoch verlangten die Adligen es von ihm. Moa ballte die Fäuste unter dem Tisch.

 

Alawas Mund stand vor Schreck weit offen und ein feiner Speichelfaden zog sich über das Kinn. Sein persönlicher Diener beugte sich gerade vor, um den Speichel mit einem Tuch wegzuwischen, da hielt Moa ihn mit einer Geste zurück. Wenn ihr Verlobter es nicht fertig brachte sie zu küssen, dann musste sie es tun. Es war beschämend, doch die einzige Möglichkeit, den Abend nicht in einer noch größeren Blamage enden zu lassen.

 

Sie griff nach einer Serviette, lehnte sich zu Alawas herüber und tupfte ihm den Speichel von Kinn und Mundwinkel. Ehe der Mut sie verlassen konnte, nahm sie seinen Kopf sanft in ihre Hände, beugte sich zu ihm hinüber und drückte ihm einen Kuss, so flüchtig sie es wagte, auf die feuchten Lippen.

 

Es fühlte sich an, als küsse sie einen toten Fisch.

 

Der Prinz zuckte zusammen und hob abwehrend eine Hand. Moa fürchtete, er würde nach ihr schlagen, doch dann begannen seine Augen zu glänzen und ein dümmliches Grinsen breitete sich auf seinen Zügen aus.

 

Schamesröte stieg Moa in die Wangen, als das Lächeln des Prinzen begeisterte Rufe bei den Männern und Gekicher bei den Frauen auslöste. Dennoch konnten manche der Adligen des Tals ihre mitleidigen Blicke nicht verstecken.

 

Moa senkte den Blick auf ihre Hände, ertrug es still und mit so viel Würde, wie sie aufbringen konnte. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte ihre Speisen nach den cinannschen Rüpeln geworfen. 

 

Übertriebenes Gejohle mischte sich mit unsittlichen Bemerkungen, als Alawas, angestachelt durch das Lachen der Gäste, nicht aufhören wollte zu grinsen.

 

„Unser Prinz weiß sehr wohl, was gut ist!“, rief Herzog Doness übermütig und bedeutete Moa, auch ihn zu küssen. Mit einem gezwungenen Lächeln lehnte sie ab. Doness tat, als habe ihn ein Pfeil tödlich in die Brust getroffen und der Saal tobte vor Begeisterung.

 

Bevor die Gäste zu sehr außer Kontrolle geraten konnten, zeigte Mahn Einsehen und winkte eine Gauklertruppe heran. Jauchzend und johlend sprangen die farbenfroh bekleideten Männer vor.

 

Ein spindeldürrer Kerl warf bunte Bälle durch die Luft, während die anderen Gaukler sich daran machten, eine lebende Pyramide mit ihren Körpern zu errichten. Einer von ihnen schaffte es jedoch immer wieder, die anderen mit seiner Tollpatschigkeit zum Einsturz zu bringen, indem er sich an Haaren, Ohren und anderen empfindlichen Körperteilen seiner Kameraden emporzog. Die Gäste grölten.

 

Moa ließ sich in ihren Stuhl zurücksinken und schloss für einen Moment die Augen. Würde so ihre Zukunft aussehen? Ein peinlicher, erniedrigender Auftritt in der Öffentlichkeit nach dem anderen? Sie würde für den Rest ihres Lebens an Prinz Alawas gebunden sein, der weder die geistigen noch die körperlichen Fähigkeiten eines Mannes besaß, geschweige denn die eines Königs. Diese Hochzeit diente einzig dazu, Caruss, Alawas Vater, uneingeschränkten Zugriff über die Staubdiamanten des Tals zu sichern.  

 

Diese Vorstellung drohte sie die Beherrschung verlieren zu lassen. Unter dem Tisch presste sie die Fingernägel in ihre Handflächen, bis der Schmerz sie soweit ablenkte, dass sie die Tränen in Schach halten konnte.

 

Einer der Gaukler, hochgewachsen mit dunklem Haar, wirbelte Fackelstöcke durch die Luft. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, als er die Stöcke höher und höher fliegen ließ. Moa wartete, bis seine Schau ihren Höhepunkt erreicht hatte und die Fackeln in verschiedenen Farben brannten. Dann schlüpfte sie von ihrem Stuhl. Sie hatte ihre Pflichten für den Abend erfüllt. Niemand würde sie vermissen.

 

Ohne zurückzublicken verschwand sie so schnell sie konnte aus dem Festsaal, stürmte an verwunderten Dienern und irritierten Wachen vorbei und rannte die Flure entlang, bis sie in ihre Gemächer gelangte.

 

Mit zitternden Fingern schob sie den Riegel vor, durchquerte den Raum und trat durch die Flügeltüren auf die weitläufige Terrasse.

 

Warme Nachtluft wehte ihr ins Gesicht und strich durch ihr Haar. Moa schlug ihre Hände vors Gesicht und weinte.

 

 

 

 

 

Joesin konnte sein Glück kaum fassen. Der hübsche Schmetterling war ihm ins Netz gegangen, ohne es zu wissen.

 

Lautlos verriegelte er die Flügeltüren zu den königlichen Gemächern und trat auf die Terrasse. Die Prinzessin stand mit dem Rücken zu ihm und hatte ihr Gesicht in beiden Hände vergraben. Ihre Schultern bebten unter stummen Schluchzern.

 

Joesin schlich lautlos an ihr vorbei und lehnte sich an die steinerne Brüstung der Terrasse. Das Tal tief unter ihm lag schwarz in der Nacht und die verschlungenen Muster der Flüsse und Reisfelder glitzerten im Licht der Mondsichel wie silberne Bänder.

 

Joesin kreuzte die Arme vor der Brust und musterte die Prinzessin. Ihr hüftlanges Haar war ihr über die Stirn gefallen und hüllte sie ein wie ein goldener Umhang. Unter den Frauen ihres Königreiches galt sie als Schönheit, doch auf ihn wirkte sie mehr wie eine zierliche Porzellanpuppe, nicht dafür geschaffen, in der Welt außerhalb ihres Schlosses zu bestehen. Sie gehörte in einen Glaskasten, wie aller Schmuck und Tand.

 

„Weshalb weint Ihr, Hoheit?“

 

Die Prinzessin fuhr zusammen wie ein aufgescheuchtes Reh. „Was macht Ihr hier?“, rief sie aus, reglos vor Schreck. „Wie seid Ihr –?“

 

„Verzeiht mir, Hoheit.“ Er hob beschwichtigend die Hände. „Euer Onkel machte sich Sorgen. Er sandte mich, um nach Euch zu sehen.“

 

Ihre Schultern sanken herab und sie nickte. Wie gutgläubig sie war. Vielleicht fühlte sie sich auch sicher genug in dem Wissen, dass die nächsten Wachleute vor ihrer Tür sofort auf einen Ruf von ihr reagieren würden. In diesem Augenblick lagen sie jedoch zusammengesunken in einer dunklen Ecke im Flur. Joesin hoffte, dass niemand sie allzu bald finden würde.

 

Die Prinzessin wischte sich hastig die Tränen von den Wangen und glättete ihr Gewand. „Ich möchte allein sein … Gaukler.“

 

Joesin entging die abschätzige Art, mit der sie das letzte Wort aussprach nicht. Er presste die Zähne aufeinander, doch er sagte nichts. Der Himmel über ihnen war weitestgehend klar und wenn er nicht wollte, dass Rach zu früh von den Wachen entdeckt wurde, die auf den Zinnen der Burg patrouillierten, musste er die Prinzessin beschäftigen, bis er ihn im Schutz der Wolken rufen konnte. Auf der Terrasse der Prinzessin waren sie vor neugierigen Augen geschützt. Was der Prinzessin sonst Abgeschiedenheit ermöglichte, würde ihr nun zum Verhängnis werden.

 

Eine Brise kam auf, verfing sich im Haar der Prinzessin und ließ es um ihr Gesicht tanzen. „Ich möchte allein sein“, seufzte sie und strebte auf die Flügeltüren zu.

 

Ihre seidenen Gewänder schmiegten sich bei jeder Bewegung an ihren Körper und die weit geschnittenen Ärmel, deren Spitze den Boden berührten, bauschten sich auf.

 

Joesin stieß sich von der Brüstung ab. Sie sollte den Balkon nicht verlassen. „Wartet.“ 

 

Die Prinzessin erstarrte.

 

„Lasst mich Euch aufmuntern“, bat er mit einem vorgetäuschten Lächeln.

 

Die Prinzessin runzelte die Stirn. „Ohne deine Künste beleidigen zu wollen, aber ich fürchte, heute Abend wird mich nichts mehr aufmuntern.“

 

Joesin musste eine spöttische Bemerkung zurückhalten. Das Selbstmitleid dieses verhätschelten Kindes war lächerlich.

 

Sie war eine Prinzessin, heiratete den Erben der Krone von Cinann. Reichtum und ein Leben ohne Sorge, Entbehrung oder gar harte Arbeit waren ihr gewiss. Das einzige Zugeständnis, das er ihr machte, war, dass ihr zukünftiger Ehemann schwachsinnig und ihr Schwiegervater ein irrer, grausamer Herrscher war, der sein Volk zugrunde richtete.

 

Joesin erstickte den Funken Mitgefühl, der in ihm aufflammte, mit aller Entschlossenheit. Er war nicht hier, um sie zu bemitleiden. Für ihn war sie nichts als ein Mittel zum Zweck.

 

Verstohlen sah er zu den Flügeltüren.

 

Keine Freundinnen oder Zofen waren ihr in die Gemächer gefolgt. Entweder sie hatten nicht bemerkt, dass ihre Prinzessin verschwunden war oder es kümmerte niemanden. Dem König selbst schien es zumindest gleich zu sein.

 

Auf eine Gelegenheit wie diese hatte er kaum zu hoffen gewagt.

 

„Lasst es mich zumindest versuchen“, rief er ihr zu und breitete die Arme einladend aus. „Was kann es schaden?“

 

Es war egal, was er tat, solange sie mit ihm auf der Terrasse blieb, bis die Wolken über ihnen schwebten.

 

Die Prinzessin seufzte erneut und ihre Augen glitten zweifelnd über sein bunt gemustertes Gewand. Er musste sie überzeugen, noch zu bleiben.

 

In seinem früheren Leben hätte er seinen Charme spielen lassen und sie umgarnt, doch dieses Leben gab es nicht mehr. Aber vielleicht schätzte dieses Mädchen zur Abwechslung ein wenig Ehrlichkeit und aufrichtiges Interesse. Denn obwohl er sich dagegen sträubte, brannte er doch darauf zu erfahren, weshalb die Nacht ihrer Verlobung sie derart zur Verzweiflung brachte. 

 

„Bitte beantwortet mir eine Frage, Hoheit.“

 

Sie betrachtete ihn skeptisch, nickte jedoch. 

 

„Weshalb weint Ihr?“

 

Irritiert hob sie eine Braue, doch anstatt ihn erneut herabzuwürdigen oder fortzujagen, überraschte sie ihn mit einer Antwort.

 

„Dies ist keine Hochzeit“, sagte sie bitter. „Es ist eine Farce.“

 

Joesin legte den Kopf schräg. „Erklärt mir das bitte, Hoheit.“

 

Sie seufzte schwer und schaute zu Boden. Dann lief sie mit bemessenen Schritten zur Brüstung und schaute ins Tal hinab. Ihre Augenbrauen waren weit dunkler als ihr Haar, beinahe schwarz und der Kontrast gab ihren ätherischen Zügen eine verruchte Note, so als verberge ihr Antlitz mehr als träumerische Naivität.

 

„Nenn mich nicht so“, murmelte sie. „Dieser Titel ist ein Fluch.“ 

 

Joesin war, als habe sie ihn geohrfeigt. „Hoheit“, presste er hervor, „Ihr wisst nichts von Flüchen.“ 

 

„Wie bitte?“ Verwundert sah die Prinzessin auf. „Was sagst du?“

 

Gewaltsam fuhr Joesin sich mit den Händen übers Gesicht und durch die Haare, um dem Zorn Herr zu werden, der urplötzlich in ihm loderte. Ihre unbedachten Worte verhöhnten ihn auf grausame Weise, doch sie wusste nicht, was sie gesagt hatte. Unter größter Anstrengung zauberte er ein falsches Gauklerlächeln auf seine Züge. „Verzeiht mir“, sagte er. „Ich kenne Euren Namen nicht.“

 

Überrascht blinzelte sie. „Moa“, sagte sie. „Meine Eltern nannten mich Moa.“ Ihr Blick flackerte und sie richtete ihn auf das verschlungene Muster der Flüsse. „Ich wünschte, sie wären hier … Sie hätten niemals zugelassen, dass ich –“ Sie biss sich auf die Unterlippe. 

 

Joesin legte den Kopf in den Nacken. Die Wolken sanken tiefer. Er könnte es riskieren, Rach herbeizurufen. Doch die Prinzessin seufzte erneut und etwas an diesem Laut hielt ihn zurück.

 

Irritiert spürte er dem Gefühl nach. Es war … wie ein Funken gewesen. Ein flüchtiges Aufglühen in seiner Brust, an der Stelle, wo einst sein Herz geschlagen hatte. 

 

Joesin schüttelte den Gedanken ab. Es war absurd. In seiner Brust befand sich nichts als Asche und Ruß. Es musste die Freude darüber sein, dass sein Plan sich prächtiger entfaltete als er für möglich gehalten hatte.

 

Die Wolken standen günstig. Schwer und dunkel schwebten sie über dem Schloss und schoben sich auf den vollen Mond zu. Joesin horchte in sich hinein, fand die innere Verbindung zu Rach und berührte sie, um ihn zu rufen – doch er hielt erneut inne.

 

Verwundert und gleichsam verärgert über sich selbst schaute er ins Tal. Was hielt ihn zurück?

 

„Lasst mich Euch eine Geschichte erzählen“, sagte er und gestand sich ein, dass sein Gewissen nicht vollkommen zu Ruß verkommen war und ihn drängte, sich zu erklären. Er trug noch einen Rest Menschlichkeit in sich, selbst wenn es sich nicht so anfühlte.

 

Ein Funken glomm in den Augen der Prinzessin auf, doch sie blieb vorsichtig. „Weshalb sollte ich diese Geschichte hören wollen?“  

 

„Diese Geschichte ist von Bedeutung“, beharrte er, „wie alle wahren Geschichten.“

 

Einen Moment zögerte sie, doch dann siegte die Neugierde. „Nun gut.“ Sie schlang die Arme um den Brustkorb und lehnte sich an die Brüstung. „Erzähl sie.“

 

Joesin schaute zum Himmel. Er sah Rachs Schatten über den Wolken kreisen. In wenigen Augenblicken würde er ihn rufen und dann musste er schnell handeln, sonst war seine Chance verwirkt.

 

„Diese Geschichte handelt von Unterdrückung und Ausbeutung durch einen grausamen König.“ Verstohlen glitt er näher an die Prinzessin heran, bis der seidene Stoff ihrer Ärmel seine Hand kitzelte.

 

„Ein Krieger reiste durchs Land“, fuhr er leise fort, „ruhelos, denn obwohl er sich unsäglich nach seiner Heimat sehnte, war er seit vielen Jahren nicht mehr dort gewesen.“

 

Die Prinzessin legte den Kopf schräg. Mitgefühl lag in ihrem Blick. „Weshalb?“

 

Wieder spürte Joesin diesen seltsamen Funken in seiner Brust. Unbewusst fuhr er sich über die Stelle, wo sein Herz einst geschlagen hatte. „Er wurde verbannt“, sagte er rau.

 

„Was hat er getan?“

 

Joesin lachte humorlos auf. „Was er getan hat? Das Schwert gegen einen Tyrannen erhoben, um sein Leben und das seiner Familie zu verteidigen.“

 

Die Prinzessin runzelte die Stirn. „Deshalb haben sie ihn aus seiner Heimat verbannt?“

 

„Nun, nicht direkt.“ Joesin senkte den Kopf. Bilder stiegen vor seinem Auge auf. Furchtbare Bilder von einem Kerker mit engen Käfigen, grausamen Foltermeistern, geborstenen Knochen und zerfetzter Haut, nicht endenden Schreien und dem alles durchdringenden Geruch von Asche und Blut.

 

Bemessen atmete er ein und aus, um diese Bilder und das Grauen, das sie mit sich brachten, zurückzudrängen.

 

„Bevor ich verbannt wurde“, fuhr er leise fort und schalt sich augenblicklich für den Versprecher. „Bevor der Krieger verbannt wurde“, wiederholte er und hoffte inständig, das der Prinzessin nichts aufgefallen war, „der eigentlich nur der Sohn eines Fischers war, hatte er gegen den Tyrannen gekämpft. Er wollte sein Leben und das seiner Familie schützen und sie aus Unterjochung und Ausbeutung befreien. Doch er verlor den Kampf. Der König nahm ihn gefangen und verfluchte ihn.“

 

Die Augen der Prinzessin waren groß geworden. Begriff sie, was er ihr erzählte?

 

Joesin wandte den Blick von ihr ab. Sie wirkte zu zerbrechlich und verletzlich für das, was ihr bevorstand. Für das – berichtigte er sich – was er ihr antun würde.

 

„Er wurde verflucht“, wiederholte er leise, „aber er entkam. Den Fluch trug er jedoch in sich und so konnte er niemals mehr heimkehren. Nach Jahren ruheloser Wanderung, in denen er ständig auf der Flucht vor den Häschern des Tyrannen war, gelangte er eines Abends in ein Gasthaus. Dort begegnete er einem alten Bauern, der ihm von einem uneinnehmbaren Schloss erzählte, in das niemals ein Feind des Königs einen Fuß gesetzt hatte. Denn das Schloss liegt auf einem hohen Fels und ragt über ein Tal, das von einem gewaltigen Gebirge umgeben ist und durch das tausend Flüsse fließen. In diesem Schloss lebt eine Prinzessin, die an ihrem sechzehnten Geburtstag ihre Verlobung feiert. Ihr Onkel, König Mahn, prahlt weithin mit ihrer Schönheit. Er hütet sie wie seinen kostbarsten Besitz und das ist sie auch, wenn man bedenkt, dass ihre Hochzeit mit dem Prinzen von Cinann ein Bündnis besiegeln wird, das seine Nachfolgerin zu einer der einflussreichsten Herrscherinnen der drei Reiche macht. Ganz zu schweigen von den Vorteilen, die der Tyrann von Cinann sich von dieser Hochzeit verspricht.“

 

Der Atem der Prinzessin hatte sich beschleunigt. Ihr dämmerte, worauf seine Geschichte hinauslief.

 

„Zu dem Verlobungsfest sind ausschließlich gewählte Gäste geladen und die Soldaten patrouillieren in dieser Nacht in zehnfacher Zahl auf den Zinnen und in den Gängen.“ Joesin hielt einen Moment inne, um seine Worte wirken zu lassen. „Ahnt Ihr, was der Krieger dachte, Moa? Könnt Ihr Euch ausmalen, was er wagen wird, um einen Schlag gegen den König von Cinann zu führen? Einen Schlag gegen Caruss, den irren König, der nichts lieber tut, als sein Volk und die freien Menschen der Klippen leiden zu sehen und verfluchte Aschewesen zu erschaffen?“

 

Er machte einen letzten Schritt auf sie zu und beugte sich zu ihr hinunter. Er war ihr so nahe, dass er die Spiegelung des Mondes in ihren schreckensweiten Augen sehen konnte. Eine Wolke schob sich vor den Mond und hüllte die Terrasse endgültig in schützende Dunkelheit.

 

„Sagt es mir“, forderte er. „Was wird dieser Krieger tun?“

 

Die Prinzessin musste den Kopf in den Nacken legen, um ihn anzuschauen. „Er … er …“, setzte sie an, brach aber ab.

 

Joesin unterdrückte ein Lächeln. „Ratet.“

 

Ihre Stimme bebte, als sie sprach. „Will er die Prinzessin ermorden?“

 

Bestürzung überkam ihn. Er wollte sie einschüchtern, nicht zu Tode ängstigen. „Nein, Moa“, sagte er rasch und fügte sanfter hinzu: „Er ist kein Mörder. Es liegt ihm mehr daran, ein wirksames Druckmittel in die Hände zu bekommen.“

 

Die Haltung der Prinzessin entspannte sich dadurch kaum.

 

Joesin hob eine Hand und strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. Die Prinzessin versteifte sich und starrte ihn an.

 

Er machte sich bereit zuzupacken. „Ratet erneut.“

 

Sie atmete zitternd ein. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als sie antwortete: „Er will versuchen, die Prinzessin in der Nacht ihrer Verlobung aus dem Schloss zu entführen.“

 

Zufrieden lächelte er. „Ihr habt es erraten.“

 

 

 

 

 

Kapitel 2

 

 

 

Moa wich zurück, doch es war zu spät. Die Hand des jungen Mannes im Narrenkostüm schoss vor und schloss sich um ihren Oberarm. Sein Gesicht wurde hart wie Stein.

 

„Ihr werdet mit mir kommen, Prinzessin.“

 

Sie stemmte sich gegen seinen Griff. „Ich werde schreien.“

 

Der falsche Gaukler schnaubte. „Bitte.“ Er zuckte mit den Schultern. „Schreit, so laut Ihr könnt.“

 

Er bewegte sich schneller, als sie blinzeln konnte und der Schrei wurde von seiner Hand erstickt, die plötzlich auf ihrem Mund lag. Seine andere Hand schloss sich um ihren Hinterkopf.

 

„Es wird Euch nichts nutzen, Prinzessin.“ Die Augen ihres Entführers waren sehr nahe. Moa konnte die Farbe nicht erkennen, doch die Kälte, die darin lag, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. 

 

Ihr Blick schnellte zu der Flügeltür hinter ihm, die auf die Terrasse führte. Sie hoffte entgegen jeglicher Vernunft, dass ihre Wachen jeden Moment hindurch stürmen, um sie zu retten. Es war ihr ohnehin ein Rätsel, wie der Fremde sie aus dem Schloss bringen wollte, denn der einzige Weg herein und wieder hinaus, war ein gewundener Pfad, der rund um den steilen Felsen, über dem das Schloss aufragte, in den Stein gehauen war.

 

Der Fremde schüttelte den Kopf. „Ich werde Euch kein Leid zufügen, wenn Ihr tut, was ich sage.“

 

Moa hörte ihn kaum, ihre Gedanken rasten. Wenn sie sich von ihm loszureißen konnte und es bis zur Flügeltür schaffte, konnte sie ihm vielleicht entkommen. Aber wie sollte ihr das gelingen? Sein Griff war unnachgiebig wie Stein. Sie blinzelte und eine Träne kullerte ihre Wange hinunter.

 

Der Griff des Mannes lockerte sich etwas. „Ich will Euch nicht wehtun, Prinzessin Moa“, sagte er und es klang ehrlich. Einen Moment lang musterte er sie. „Wenn ich meine Hand von Eurem Mund nehme, versprecht Ihr, nicht zu schreien? Ihr könnt mir ohnehin nicht entkommen.“

 

Moa beeilte sich zu nicken, soweit sie es in seiner immer noch festen Umklammerung zustande brachte. Ihre Tränen rollten über ihre Wangen und benetzten seine Hand. Vorsichtig nahm der Fremde sie von ihrem Mund. Für einen Moment starrte er wie gebannt auf die feuchten Stellen auf seiner Haut, dann schüttelte er sich, als seien die Tränen etwas Gefährliches, wovon er sich befreien müsste, und streifte die Hand an seinem Gewand ab.

 

Er schaute hinauf in die Wolken und hob zwei Finger an die Lippen. Ein heller Pfiff schnitt durch das Tal.

 

Moas Blick flog zu den Türen der Terrasse, doch nichts regte sich dahinter. Wo blieben nur die Wachen? Ahnten sie nicht, dass etwas nicht stimmte?

 

Im schwachen Mondlicht standen die Wangenknochen des Fremden scharf hervor. Darunter sammelten sich Schatten, die ihm ein raues, beinahe ausgezerrtes Aussehen gaben. Sein Blick war konzentriert auf den Nachthimmel gerichtet und obwohl er ihren Oberarm noch immer feste im Griff hielt, witterte sie ihre Chance.

 

Vorsichtig holte sie Luft. Als ihre Lungen bis zum Bersten gefüllt waren, stieß einen schrillen Hilferuf aus.

 

Doch im selben Augenblick wurde ihr Schrei von einem viel lauteren Kreischen übertönt, das aus den Wolken zu ihnen herunterschallte. Es klang wie der Ruf eines Raubvogels – nur mächtiger. Er fuhr ihr durch alle Glieder und schmerzte in ihren Ohren.

 

Der Fremde reagierte sofort. Mit einer geschmeidigen Bewegung trat er hinter sie, schlang seine Arme um ihren Leib und hob sie hoch. Sein Mund war direkt an ihrem Ohr, seine Stimme klang gepresst vor unterdrückter Wut. „Das hättet Ihr nicht tun sollen, Prinzessin.“

 

Moa war jenseits jeglicher Vernunft. Mit aller Kraft lehnte sie sich gegen seine Umklammerung auf und trat um sich. Doch die Arme des Fremden waren wie aus Stein und er zuckte nicht einmal, als sie sein Schienbein mit ihrem Schuh traf.

 

Die Flügeltüren wurden mit einem Krachen aufgestoßen. Zwischen sie traten zwei Wachmänner mit grimmigen Mienen und gezogenen Schwertern. Überraschung machte sich auf ihren Gesichtern breit, als sie Moa in den Fängen des fremden Mannes sahen.

 

Ein Windstoß wirbelte Moa die Haare ins Gesicht. Sie konnte das Schlagen von Flügeln hören, doch es klang zu laut für einen Vogel.

 

Ein Schatten senkte sich auf sie herab und für einen Moment herrschte finsterste Nacht. Dann landete ein Ungeheuer auf der Terrasse.

 

Sein Aufprall ließ den Boden erzittern. Der Luftzug, den seine gewaltigen Schwingen erzeugten, warf die Türen der Terrasse zu und schlug sie den Wachmännern ins Gesicht.

 

Ein gigantischer Schnabel, größer als Moas Kopf, schwebte direkt vor ihrem Gesicht, darüber leuchteten zwei ockerfarbene Augen; wild und von einer Intelligenz, die Tiere sonst nicht besaßen. Pranken eines Löwen schabten über den Steinboden der Terrasse und darüber ragte ein mächtiger von Federn bedeckter Körper auf, aus dessen Schultern zwei Schwingen sprossen. Ihre Spannweite raubte Moa den Atem. Ein schlanker Schwanz peitschte durch die Luft und schlug Steine aus den Mauern des Schlosses.

 

Greif, schoss es ihr durch den Kopf. Dies war ein Greif.

 

Als Kind hatte sie die Zeichnung eines solchen Geschöpfes gesehen. Sie hatte es für eine Märchenfigur gehalten.

 

Der Mann im Narrenkostüm bewegte sich. Zu ihrem Entsetzen trug er sie auf den riesigen Vogel zu. Moa wollte um Hilfe rufen, doch seine Hand lag erneut über ihrem Mund. Auf sein Zeichen neigte der Greif das Haupt und ließ sich auf den Steinboden nieder.

 

Der Fremde schwang sich hinauf, zog Moa mühelos mit sich und setzte sie vor sich auf den Rücken des Untiers. Ein Arm lag fest um ihre Taille, den anderen vergrub er in den Federn im Nacken des Greifen. Er beugte sich weit nach vorne und drückte sie mit sich, bis ihr Kinn den Hals des Vogels berührte.

 

„Festhalten“, sagte er. Es blieb seine einzige Warnung.

 

Der Greif kauerte sich zusammen. Dann stieß er sich mit einem grellen Schrei von der Terrasse ab.

 

Die Welt wurde zu einem Wirbel aus Luftströmen, Panik und dem Verstand raubendem Gefühl zu fallen. Moas Dasein schrumpfte zu einem festen Knoten in ihrer Magengegend zusammen. Sie klammerte sich mit aller Kraft an den federbesetzten Körper, der sie mit sich in die Tiefe riss. Ihr schwanden die Sinne und die Welt wurde schwarz.

 

Ein Ruck ging durch ihren Körper und riss sie zurück ins Bewusstsein. Sie wurde auf und ab geworfen und klammerte sich mit verzweifelter Kraft fest. Ihr Körper lag auf etwas Großem, Weichem, das sie im Gesicht und an den Armen kitzelte. Eiskalter Wind heulte in ihren Ohren und zerrte an ihren Kleidern und Haaren. Es war, als sei sie in einen Wirbelsturm geraten. Sie schloss die Augen und ertrug es. 

 

Es dauerte lange, bis das Schaukeln endlich nachließ und sie sanfter dahinglitten. 

 

Vorsichtig öffnet Moa ihre Augen. Sie sah Federn, durch die der Wind pfiff, und dahinter dunkle Wolken und glitzernde Sterne.

 

Sie hob den Kopf, versuchte sich aufzurichten. Eine eisige Böe biss ihr in die Wange und trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie keuchte auf.

 

Erst in diesem Moment wurde sie des warmen Körpers gewahr, der sich von hinten über sie beugte. Moa schrie auf. Sie stemmte sich hoch, doch der Fremde drückte sie mit seinem Körper herunter.

 

„Wir fliegen sehr schnell, Prinzessin“, rief er über den Wind. „Wenn ihr Euch aufrichtet, werden wir von Rachs Rücken gerissen und stürzen in den Tod.“

 

Moa hörte auf, sich zu wehren. Sie sank auf dem Nacken des Greifen zusammen und verbarg ihr Gesicht in seinen Federn. Ihre Brust krampfte sich in stillen Schluchzern zusammen.

 

Mit einem Mal glitt eine Hand von hinten über ihren Arm und legte sich um ihre Finger, die sie im Gefieder festgekrallt hatte. 

 

„Lasst los, Prinzessin“, sagte der Fremden eindringlich.

 

Instinktiv klammerte Moa sich fester. Der Wind heulte in ihren Ohren wie ein wütendes Tier. Sie könnte niemals loslassen, die Angst zu fallen war viel zu groß.

 

Die Hand des Fremden breitete sich über ihre und rieb ein wenig Wärme zurück in ihre eiskalten Finger. „Du tust ihm weh, Moa.“ Es klang wie eine Warnung. „Gib mir deine Hand.“

 

Moa schluckte. Die Vorstellung, dem Tier Leid zuzufügen war ihr zuwider, selbst, wenn ihr der Raubvogel Angst einflößte.

 

Sie atmete zitternd ein und überließ dem Fremden widerwillig ihre Hand. Er umschloss die Finger und löste sie vorsichtig aus den Federn. Langsam, um sie nicht aus der Balance zu bringen, führte er ihre Hand an ihren Oberkörper heran und steckte sie unter die seidenen Gewänder, die wild im Nachtwind flatterten. Das Gleiche tat er mit ihrer anderen Hand.

 

Moa zog ihre Arme an die Brust und krümmte sich zu einem Ball zusammen. Trotz der Wärme, die der Greifen und der Fremden ausstrahlten, zitterte sie am ganzen Leib.

 

„Versuch zu schlafen“, hörte sie ihn sagen. „Wir werden bis zum Morgengrauen fliegen.“

 

Moa unterdrückte ein Schluchzen, doch sie konnte nichts gegen die Tränen ausrichten, die aus ihren Augen in das Gefieder tropften. Sie hatte geglaubt, dass ihre Verlobung das Schlimmste war, das ihr in dieser Nacht zustoßen würde. Wie furchtbar falsch sie gelegen hatte…

 

Der Greif schwang sich höher in den Himmel hinauf. Er ließ die schneebedeckten Berggipfel weit hinter sich und folgte den Flussläufen durch das Tal gen Osten. 

 

So kläglich Moa sich an der Festtafel auch gefühlt hatte, in diesem Moment wünschte sie sich dorthin zurück, wünschte sie würde zwischen den abstoßenden Adligen von Cinann Wein trinken oder gar mit Alawas vermählt werden. Alles war besser, als diese Angst vor dem Fallen, die sich wie Gift durch ihre Adern fraß.

 

Zu viele Gedanken rasten ihr durch den Kopf, prügelten auf sie ein. Moa hatte weder die Kraft, sie alle zu hören, noch ihnen einen Sinn zu verleihen. Innerlich befand sie sich noch immer im freien Fall. Von Schlaf hatte ihr Entführer gesprochen. Sie glaubte, niemals wieder schlafen zu können.

 

Doch das Gefieder war weich, so weich wie ihre Daunenkissen. Moa atmete ein und es roch nach Tier, nach Erde und nach Regen. Der Geruch wirkte seltsam beruhigend.

 

Es war ihr unmöglich zu sagen, wie viel Zeit verging, doch irgendwann wurde sie von Erschöpfung und Müdigkeit übermannt und dämmerte ein.