#newpipertalent2019

Die letzten Gebieter I - Maya Thule

 

Klappentext

 

Einst waren sie zahlreich und bestimmten über die Geschicke der Welt, doch Jahrzehnte des Krieges löschten nahezu alle Gebieter aus. Den wenigen, die überlebten, steht nun eine Schlacht bevor, die über das Schicksal der Welt entscheiden wird.

***

Als bettelarmes Fischermädchen geboren, wird Ihla von der Gebieterin der Weitsicht, Aluthe, in den Palast der Inseln geholt, wo sie in der Töchternschule ein Zuhause findet. In ihrem neunzehnten Sommer wird ihr die Aufgabe auferlegt, Tarjan, den Gebieter der Stürme, zu befreien, der seit einem Jahrhundert in Ketten liegt. Er begehrt weder Freiheit noch Vergebung, denn Hass und Schuld brodeln in seinem Innern. Ihn zu befreien, bedeutet einen Sturm zu entfesseln.

Dennoch muss Ihla ihn rechtzeitig zu den Inseln bringen, bevor Hoshtisnah, die Gebieterin der Unterwelt, ausbricht. Denn wenn das geschieht, wird die Welt in ihre leidbringenden Hände fallen.

Auf ihrer Reise zu den Inseln beginnt Ihla, in Tarjan mehr als nur ein Werkzeug zur Rettung ihrer Heimat zu sehen. Doch Hoshtisnah spielt ein undurchschaubares Spiel, das Freunde gegen Verbündete aufhetzt und alles in Frage zu stellen droht, woran Ihla glaubt.

 

In einem anderen Teil des Landes wird der junge Wanderheiler Mandur damit konfrontiert, ein Gebieter zu sein. Als er eine unmögliche Rettung wagt, zieht er die tödliche Aufmerksamkeit Hoshtisnahs auf sich. Sein einziger Ausweg ist eine Reise zu den Inseln …

Leseprobe

 

Kapitel 1

 

 

 

Ihla krallte ihre Finger in die Ritzen zwischen den Steinen und presste das Gesicht an die steile Felswand. Der Schal, den sie sich um Kopf und Hals gebunden hatte, flatterte wie die zerschlissene Flagge einer verlorenen Schlacht hinter ihr im Wind.

 

Sie war zu weit gekommen, um umzukehren. Entweder sie starb hier oder sie schaffte es auf den Felsvorsprung, der über ihr aufragte. Wir werden uns wiedersehen, hatte Aluthe ihr versprochen und Ihla klammerte sich an diese Worte wie an den Fels unter ihren tauben Fingern.

 

Der Wind heulte wie ein Rudel hungriger Wölfe. Ihla schrie, als eine Böe drohte, ihr den Halt zu rauben. Ihr Herz pochte so heftig, als wolle es ihre Rippen sprengen. Der Stiel der Streitaxt auf ihrem Rücken drückte sich von hinten gegen ihren Oberschenkel. Sie biss die Zähne aufeinander und atmete keuchend ein und aus. Sie hatte nur eine Chance, den Vorsprung zu erreichen. Wenn es ihr nicht gelang, würde sie fallen.

 

Sie sammelte allen Mut, spannte ihre Muskeln und stieß sich ab.

 

Mit einer Hand erreichte sie den Vorsprung, die zweite rutschte ab. Ihla schrie auf, baumelte für einen Herzschlag über dem Nichts.  

 

Dann riss sie den Arm hoch, ertastete den Vorsprung und krallte sich fest. Ihre Muskeln kreischten vor Schmerz, doch sie ignorierte es. Schmerz bedeutete Leben, jeden Zentimeter, den sie sich anhob, bedeutete Leben.

 

Es gelang ihr, einen Arm auf den Vorsprung zu hieven, der zweite folgte, während ihre Beine nach Halt suchten. Sie riss sich die Haut an ihren Armen auf, ihre Hüftknochen schabten über den Stein und dann lag sie da, mit dem Gesicht in einer Pfütze und einem Fuß über dem Abgrund.

 

Schwer atmend schaute sie auf. Der Sturm heulte, schmiss ihr das Haar ins Gesicht und schickte unbarmherzig Hagel und Regen auf sie hinab. Sie musste sich bewegen, musste hier weg, bevor der eisige Wind den letzten Funken Wärme aus ihrem Körper blies.

 

Ungeschickt zog sie an den gekreuzten Lederbändern über ihrer Brust. Die schwere Waffe schlug auf den Fels. Mit zitternden Fingern ergriff Ihla den Axtstiel und stemmte sich daran in die Höhe. Vor ihr ragte die dunkle Öffnung einer Berghöhle auf. Sie schleppte sich darauf zu. 

 

In dem Moment, als sie in den Schutz der Steine trat, brach das Geheul des Sturmes ab und Ihla fühlte sich haltlos ohne sein Toben, als hätte allein der Wille, gegen ihn zu bestehen, sie auf den Beinen gehalten. Sie stolperte und fiel auf die Knie, keuchte und rang um Atem. Mit pochendem Herzen starrte sie blind vor sich hin und wartete darauf, dass das Zittern ihrer Muskeln nachließ. Ihr Haar fiel ihr in dicken Strähnen ins Gesicht. Es war schmutzig und von Eiskristallen überzogen.

 

Ein schabendes Geräusch ließ sie auffahren. Von draußen fiel nur schwaches Licht in die Höhle und es dauerte eine Weile, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Langsam tastete Ihla sich voran.

 

Aus der Finsternis tauchte ein junger Mann vor ihr auf. Ihlas Herz schlug wild, Schwindel erfasste sie. Sie hatte ihn gefunden!

 

Der Mann hing an seinen Armen von der Decke und war mit nichts als einer zerschlissenen Hose bekleidet. Es war die Gestalt eines vor langer Zeit Gehängten, der für immer im Zwielicht seines Sterbens verweilte. Der Kopf lag auf der Brust, seine Zehen berührten geradeso den Boden und er schwang im Takt des Sturmes hin und her, obwohl kein Wind in die Höhle drang. 

 

Von Dringlichkeit gepackt, schleppte sie sich auf den gefesselten Gebieter zu. Die Axt zog sie mühselig hinter sich her. Zwei grobe Eisenringe umschlossen seine Handgelenke und die Ketten daran führten zu einem Ring, der an die Decke der Höhle geschmiedet war, und wieder hinab zu einem gewaltigen Felsbrocken.

 

Mit einer fahrigen Bewegung wischte Ihla sich Schmutz und Schweiß von der Stirn. Die Haut des Mannes war grau und fahl, wie der Stein, der ihn umgab. Sie blinzelte. Zuerst hatte sie die Male auf seinem Körper für Maserungen gehalten, doch nun erkannte sie, dass es sich um Narben handelte. Er musste ein kriegerisches Leben geführt haben.

 

Ihr Blick wanderte zu seinem Gesicht. Nasses gelocktes Haar fiel bis zu seinen Wangenknochen und verdeckte seine Augen. Seine Lippen waren leicht geöffnet. Er wirkte, als würde er schlafen und auf eine seltsame Art … verletzlich. Kein Bart bedeckte sein Kinn. Er konnte nicht viel älter gewesen sein als ihre neunzehn Sommer, als seine Gebieterkräfte ihn unsterblich gemacht hatten.

 

Ihla runzelte die Stirn und wagte sich näher heran. Wasser tropfte von kleinen Felsnasen an der Decke und fiel auf ihn wie Regen. Es durchtränkte sein Haar und lief ihm in Rinnsalen den Körper hinab. Von einem Impuls getrieben, stellte Ihla sich auf die Zehenspitzen und lehnte ihr Ohr gegen seine Brust. Seine Haut war eiskalt. Kein Atem drang aus seinem Mund, kein Herzschlag war zu vernehmen.

 

Diese vollkommene Reglosigkeit war ihr unheimlich. Er war so still wie der Stein selbst, beinahe fürchtete sie, eine Statue vor sich zu haben. Sie reckte sich, um seine Stirn mit den Fingern zu erreichen. Ohne die Axt als Stütze hätte sie die Balance verloren. Zaghaft schob sie sein Haar beiseite und berührte seine Haut.

 

Es fühlte sich an wie Stein. Mit zitternden Fingern tastete Ihla über seine Wange. Einige Tropfen glitten von seiner Stirn über die Nase und fielen lautlos auf sie hinab. „Unglaublich“, flüsterte sie.

 

Aluthe hatte versucht, ihr zu beschreiben, was sie vorfinden würde, wenn sie die Höhle lebend erreichte, doch nichts in der Welt hätte sie auf den Anblick dieses versteinerten Gebieters vorbereiten können. Trotz seiner Gefangenschaft und seiner absoluten Reglosigkeit strahlte er etwas aus, das in ihrem Blut einen seltsamen Widerhall fand.

 

Sein Körper bebte und dann hoben sich seine Lider. Ihla erstarrte.

 

Augen von tiefem Violett und sturmgetränktem Grau blitzten zwischen feuchten Wimpern hervor.

 

Ihr stockte der Atem. Der bodenlose Hass, der in seinem Blick lag, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Hastig zog sie ihre Hand weg. 

 

Der junge Mann starrte auf sie hinab. Er spannte seine Muskeln und riss an den Fesseln. Sofort brach die steinerne Schicht auf seiner Haut auf. Auf seinem gesamten Körper bildeten sich Risse, schossen wie Blitze über ihn hinweg und hinterließen fleischfarbene Krater. Er brüllte.

 

Ihla sprang zurück, fiel zu Boden. Hastig kroch sie von ihm weg und rappelte sich in sicherer Entfernung wieder auf. Der hasserfüllte Blick des Gebieters folgte jeder ihrer Bewegungen.