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Cara's Dämonen

 

Das Rad des Schicksals hält niemals an. Nicht für Liebe, Schmerz oder Tod.

 Man nennt mich die Kriegerin.

 Wann immer das Schicksal es bestimmt, werde ich wiedergeboren, um grausame Mächte zu stürzen.

 Dieses Leben handelt von Kampf und Entbehrung, von Verlust, Tod und Wiedergeburt … und von Liebe.

 Aber wo soll ich beginnen, wenn das Rad weder Anfang noch Ende kennt?

 Der erste Schnee.

 Ich werde vom Tag des ersten Schnees erzählen.

 Und der Ankunft des Dämons.

 

 

 

***

 

 

 

Das Land Moorwin leidet unter der Herrschaft der weißen Priester und ihren übermächtigen Herren, den Lichtträgern – strahlende Wesen mit Flügeln aus Glas.

 

 Seit Cara vor zehn Jahren mitansehen musste, wie ihr Vater von den weißen Priestern verbrannt wurde, sinnt sie auf Rache. Ihr Herz erstarrt zu Eis. Als sie in einer Winternacht den Dämon Arun herbeiruft, bietet er ihr die Chance, eine Rebellion anzuzetteln. Cara wird alles riskieren, denn im Kampf gegen die Lichtträger bedeutet ihr das eigene Leben nichts.

 

Doch wird sie auch den Dämon opfern können, der den Eispanzer um ihr Herz zum Schmelzen bringt?

 

 

 

 

 


Leseprobe

 

Kapitel 1

 

 

 

Die Scharniere meines Zimmerfensters knarrten, als ich es vorsichtig mit einer Hand aufschob. Putzreste blätterten vom Rahmen und fielen auf das Fensterbrett, nur um kurz darauf von einer Windböe erfasst und davongetragen zu werden.

 

Es war eine klare Winternacht. Sterne blitzten vor der Schwärze des Himmels und obwohl noch keine Flocke gefallen war, konnte ich den ersten Schnee bereits im Wind riechen.

 

Ich beugte mich aus dem Fenster, genoss die frostige Luft auf meinem Gesicht und zog den würzigen Duft des Waldes tief in meine Lungen. Von hier oben konnte ich den Tannenwald überblicken. Wie ein dunkler Ozean reichte er bis an den kleinen Acker hinter unserem Haus heran.

 

Eine weitere Böe kam auf, fegte durch die Tannenzweige und brachte sie zum Wispern. Ich schloss die Augen und lauschte. Vielleicht würde ich diesmal verstehen, was die Bäume sich zuflüsterten, denn die Finsternis, die zwischen den Zeigen herrschte, hütete ihre Geheimnisse gut. Doch statt eines Flüsterns durchbrach der raue Schrei einer Elster die Nacht.

 

Ich fuhr zusammen, tastete hektisch nach dem Fenster und schlug es zu.

 

Dem Knall folgte bange Stille. Zitternd nahm ich meine Hand von der Scheibe und starrte auf die Dunkelheit dahinter. Ich verharrte und wartete, bis mein Herzschlag sich wieder beruhigte. Es dauerte eine ganze Weile.

 

Den Ruf einer Elster zu vernehmen, bedeutete großes Unglück. Häufig brachten die Vögel den Tod über jene, die ihnen zu nahe kamen oder sie kündigten von der Ankunft eines Dämons. Ich konnte von Glück reden, dass ich die Elster nicht gesehen hatte.

 

Mein Atem war ruhiger geworden, doch ich stand der Scheibe so nahe, dass ich Nebelwolken auf das Glas hauchte. Ich beugte mich näher vor und beobachtete, wie der Schleier sich nach jedem Atemzug auflöste und verschwand.

 

Das Flackern der Bienenwachskerze spiegelte sich im Glas und zerstob den Zauber. Ich blinzelte und für einige Augenblicke verschmolzen die Welten vor und hinter der Scheibe miteinander. Der Spiegel der Nacht ließ mich schöner erscheinen als ich war, mit hohen Wangenknochen und vollen, kirschroten Lippen. Tannenzweige von der anderen Seite des Fensters zeichneten geheimnisvolle Muster auf meine Wangen und wuchsen mir über die Stirn. Nur meine sonst hellblauen Augen waren wie zwei bodenlose Schlünde, in denen die Finsternis lauerte.

 

Ich versuchte, zu lächeln, doch das Lächeln entglitt mir und wurde zu einer traurigen Maske. Der grimmige Zug um meinen Mund kehrte zurück, ebenso die leichte Falte zwischen meinen Brauen und die dunklen Ringe unter meinen Augen. Ich hob einen Finger an die Scheibe und fuhr die Fältchen um meine Augen auf der kalten Scheibe nach. Ich sah älter aus, als ich war. Mit siebzehn sollte das Leben sich einem noch nicht so tief ins Gesicht gegraben haben.

 

Seufzend schloss ich die Lider und lehnte meine Stirn an das kühle Fensterglas. Ich sollte vernünftig sein und schlafen, anstatt nach Wölfen zu horchen, die Tannen zu betrachten und ketzerischen Gedanken nachzuhängen, wie ich es mir in den letzten Wochen zur Gewohnheit gemacht hatte.

 

Nichts änderte sich dadurch, nichts wurde besser. Einzig die Schatten unter meinen Augen würden am nächsten Morgen tiefer sein.

 

Missmutig stakste ich zum Bett, blies die Kerze aus und verkroch mich unter der Decke.

 

 

 

 

 

Kapitel 2

 

 

 

Die Kälte der Nacht hinterließ Eisblumen an meinem Fenster. Die Decke vor meinem Gesicht war von Frost überzogen und steif geworden.

 

Bibbernd schälte ich mich aus den Laken, zog hastig die wollene Strumpfhose an, streifte das fleckige braune Kleid über und stieg in meine löchrigen Stiefel. Nicht mehr lange und ich würde mit meiner Mutter unten vor dem Kamin schlafen müssen, damit wir nachts nicht erfroren.

 

Ich stieg die morschen Stufen hinab und blies warmen Atem in meine Hände. Als das nicht helfen wollte, klemmte ich meine Hände unter die Achseln.

 

Der Boden um die Quelle hinter unserem Haus war sonst aufgeweicht, doch über Nacht hatte die Kälte den Schlamm zu einem frostigen Muster erstarren lassen. Nur an manchen Stellen brach ich noch durch die Eisschichten der Pfützen. Ich hielt den verbeulten Eimer in das Wasser und ließ ihn volllaufen. Wir würden das Wasser später brauchen, um die Kleider anderer Leute zu waschen, bevor wir sie flickten.

 

Ächzend hob ich den Eimer an und stellte ihn an die Seite. Dann schöpfte ich Wasser in die hohlen Hände und führte sie zum Mund. Mein Blick schweifte wie von selbst zum Waldrand.

 

Ich hustete, taumelte einen Schritt zurück. Wasser rann mir übers Kinn und in den Kragen, doch ich spürte es kaum.

 

Dort stand ein Mann. Zwischen den Tannen. Halb verhüllt von den Schatten des Waldes. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen und doch wusste ich, dass er mich ansah. Ich konnte seinen Blick auf der Haut spüren. Es löste ein Gefühl in mir aus, als würden eiskalte Finger liebkosend über meinen Nacken fahren.

 

Ich atmete zitternd ein, blinzelte – und der Mann war verschwunden. Fassungslos machte ich einen Schritt auf den Waldrand zu.

 

„Cara!“

 

Der Ruf schrillte durch die Morgennebel. Erschrocken wirbelte ich herum.

 

Hinter mir stand Arane, meine Mutter.

 

„Wag es nicht“, schimpfte sie mit hochrotem Kopf. „Bleib weg von den Bäumen! Es ist verboten, in den Wald zu gehen.“

 

Verdattert schaute ich von ihr zum Waldrand und wieder zurück zu ihr. Ich hatte nie vorgehabt, zu den Tannen zu gehen.

 

„Dort lauern die Feinde des Lichts. Dämonen!“, rezitierte Arane mit schriller Stimme. „Ihre Klauen reißen dir die Seele aus dem Leib.“

 

Ich konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Aller Zauber des Morgens war verschwunden. Sie hatte ihn mit ihrem ängstlichen Kreischen verscheucht.

 

„Du redest wie die Priester, Mutter. Stört dich das nicht?“

 

Aranes Gesicht wurde kalkweiß und ein gehetzter Ausdruck trat in ihre Augen. Sie sah sich erschrocken nach allen Seiten um, als erwartete sie, einen der weißen Priester hinter dem Schuppen lauern zu sehen.

 

„Sprich nicht so“, zischte sie. „Deine ketzerischen Worte bringen uns auf den Scheiterhaufen.“

 

Unter ihrem feindseligen Blick ballte ich die Hände zu Fäusten. „Vielleicht“, murmelte ich gepresst, „wären wir dann besser dran. Wieder vereint als Familie.“

 

Die Augen meiner Mutter wurden groß. „Was sagst du da?“

 

Ich seufzte und blickte zur Seite. Es hatte keinen Sinn sich zu streiten. Wenn ich Arane zusetzte, kämpfte ich bloß an den falschen Fronten. „Nichts“, seufzte ich ergeben, „gar nichts. Lass uns einfach zur Messe gehen.“

 

Ich sollte gnädiger mit ihr umgehen, ihr gegenüber weniger feindselig sein, doch ich konnte nicht anders. Mit der Ermordung meines Vaters hatte sich eine Eiskruste über mein Herz gelegt. Dort, wo Mitgefühl und Wärme hausen sollten, traf ich auf nichts als sprödes, rissiges Eis. Wenn es um zärtliche Gefühle ging, war ich dumpf und hohl geworden – sie waren mit meinem Vater verbrannt.

 

Angst, Schmerz und Trauer schafften es durch den Panzer und konnten mich verletzen, doch keine Liebe band mich mehr an andere Menschen. In mir herrschte der Zorn – und ich war froh darum. Es war alles, was mir noch geblieben war.  

 

Ich drängte mich an Arane vorbei, doch sie trat mir in den Weg. „Nicht so“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Binde bitte dein Haar zurück, Cara. Du erregst Aufsehen.“ 

 

Ich begegnete ihrem Blick mit kalter Entschlossenheit. In diesem Moment war ich froh, Vaters Größe geerbt zu haben, sodass es Arane war, die den Kopf heben musste. Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern. Dieses Zugeständnis würde ich niemals machen.

 

„Ich habe kein Band“, sagte ich leichthin und lief weiter.

 

Überraschend flink packte Arane meinen Arm und zog mich grob zurück. Ich unterdrückte einen Schmerzenslaut. In der ausgemergelten Gestalt meiner Mutter steckte mehr Kraft, als ich geahnt hatte.

 

„Du bringst mir Schande, Cara.“

 

Wütend riss ich mich los. „Es stört dich nur, weil sie dich an ihn erinnern! Habe ich Recht?“

 

Entsetzen blutete über das Gesicht meiner Mutter, doch ich kannte kein Erbarmen mehr. „Das ganze Dorf soll sich daran erinnern, was sie ihm angetan haben! Sie alle sollen sehen, zu welch grausigen Taten sie fähig sind. Ich war erst sieben Winter alt und ich weiß noch ganz genau, wie er gebrannt hat. Seine Schreie verfolgen mich in meinen Träumen und manchmal rieche ich die verbrannte Haut, wenn…“

 

Schwer atmend brach ich ab, drehte mich zur Seite und presste eine Hand über den Mund. Tränen stiegen mir in die Augen und nahmen mir für einen Moment die Sicht. Langsam atmete ich ein und aus.

 

„Ich hasse dich“, flüsterte ich heiser. „Wie kannst du vergessen, was die Priester getan haben?“

 

Aranes Gesicht war zu einer Maske aus Stein erstarrt. Ihre Worte kamen wie scharf geschnittenes Eis aus ihrem Mund. „Binde. Dein. Haar. Zurück.“

 

Ich presste die Kiefer aufeinander, um nicht laut vor Wut zu schreien. Wie von selbst huschte mein Blick zum Waldrand und für die Dauer eines Lidschlages war die dunkle Gestalt zurück.

 

Mein Herz machte einen Satz und schlug doppelt so schnell weiter, doch schon im nächsten Moment war die Erscheinung verschwunden. Nichts als Leere wartete zwischen den Tannen. Ich schüttelte den Kopf. Dort stand niemand. Es war nur Einbildung gewesen, ein Trugbild, geboren aus meiner eigenen Wunschvorstellung.

 

Ruckartig drehte ich mich um, marschierte los und meine kupferfarbenen Locken wehten wie eine herausfordernde Flagge hinter mir her.

 

Das Kreischen meiner Mutter folgte mir auf den Fersen, doch ich ignorierte es und strebte von unserem Haus weg, zwischen morschen Gebäuden hindurch zum Kirchenplatz. Ich fühlte mich erstickt von meiner eigenen Feigheit und der meiner Mutter, fühlte mich erstickt von diesem Ort und den Grausamkeiten seiner Bewohner. 

 

Meine Stiefel scharrten über den erstarrten Matsch, der die Straßen und den weiten Platz vor der Kirche bedeckte. Angewidert sah ich mich um. Dieses Dorf war schmutzig. Unrat und Fäulnis überzogen alles. Schönheit wurde hier verachtet, sogar gefürchtet.

 

Besonders hier auf dem Kirchenplatz hatte ich stets den Eindruck, vor dem verfaulenden Maul eines Riesen zu stehen. Die Reihen der Häuser lichteten sich an so vielen Stellen. Die Bewohner waren verstorben, viele von ihnen verbrannt, ihre Wohnstätten zerfielen und niemand unternahm etwas dagegen. Andere Häuser waren abgerissen worden, um die Schande ihrer Bewohner an der Wurzel auszurotten.

 

In braune Lumpen gehüllte Gestalten krochen von allen Seiten auf die Kirche zu, hoben einzig den Kopf, um missgünstige Blicke auf die anderen Dörfler zu werfen. Angewidert wandte ich mich ab, nur um einem anderen unliebsamen Bild zu begegnen.

 

Arane sank vor dem Kircheneingang auf die Knie und verneigte sich so tief, bis ihre Stirn den Boden berührte. Ich starrte mit stumpfem Blick an dem Gebäude empor. Dann folgte ich meiner Mutter hinein.

 

Wie ich befürchtet hatte, blieb uns nur noch die erste Reihe. Mit hängendem Kopf schlurfte ich zwischen den stinkenden Menschen hindurch und kniete mich auf eines der Holzbretter, die hier anstelle von Bänken auf dem Boden lagen.

 

Priester Bardorack stand stolz aufgerichtet auf einem erhöhten Podest vor dem Altar. Das makellose Weiß seiner Roben schmerzte in den Augen und so fiel es mir nicht schwer, den Blick gesittet auf die Dielen zu richten.

 

Bardorack hatte eine Hakennase, an der zwei schlammfarbene Augen vorbeischielten, einen krummen Rücken und spinnenartige Finger, die er ständig aneinander rieb. Die langen Roben verbargen seinen Klumpfuß gut, allein der ewig humpelnde, schlurfende Gang des Priesters erinnerte daran.

 

Mit einem Schlag fiel die Kirchentür ins Schloss und wie jedes Mal durchzuckte mich das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Trübes Halbdunkel herrschte im Raum. Spärliches Licht fiel durch die schmutzigen Fenster über dem Altar und tauchte Bardorack in grauen Glanz.

 

Der Priester hob seine Arme und enthüllte die zerfledderten Schwanenfedern, die auf die Innenseite seiner Roben unter die Arme genäht waren. Sie sollten die Flügel darstellen, auf denen das Licht zur Erde kam, und an die Lichtträger erinnern. Die Diener des Lichtes.

 

Bardoracks Stimme hallte unangenehm laut durch die Kirche. „Zittert und leidet und ihr werdet das Licht sehen. Entsagt den dämonischen Versuchungen des Lebens, lasst nur das Licht in euren Herzen wohnen.“

 

Mit einem stillen Seufzer senkte ich den Kopf, bis mein Kinn die Brust berührte. Ich schloss die Augen und versuchte einen Zustand zu finden, in dem ich die Worte des Priesters nicht mehr hören musste. Manchmal gelang es mir, mich während einer Predigt davonzustehlen und in meiner Vorstellung einen Ort zu erreichen, der weit fort war von allem, das mir Angst machte und mich mit Zorn erfüllte.

 

„Die erste Nacht rückt näher“, schmetterte Bardorack, „und mit ihr kriechen die Dämonen, die Varuh, aus ihren Löchern.“

 

Mein Kopf ruckte hoch. Ein kurzer Seitenblick zeigte mir das bleiche Profil meiner Mutter, das in ehrwürdiger Andacht mehr denn je aussah wie ein ausgehöhlter Schädel. Jeder trägt seinen Tod mit sich, dachte ich, und meine Mutter trägt ihn im Gesicht.  

 

„Die erste Nacht bringt die Entscheidungsschlacht zwischen Licht und Dunkelheit.“

 

Ich bebte. Es war ein dumpfes Zittern, das von Innen kam, so als ob meine Knochen mit den Worten des Priesters widerhallten und meinen ganzen Körper zum Summen brachten. Weshalb sprach er von der ersten Nacht, wo doch kaum der erste Schnee gefallen war?

 

Mit weit gespreizten Händen schlich Bardorack in seinem humpelnden Gang um den Altar. Seine Augen glühten von einem inneren Fieber.

 

„Die erste Nacht“, zischelte er, „spannt die Brücke zwischen dem letzten Tag dieses Jahres und dem ersten des neuen Jahres. Es ist eine Zeit, in der weder Mond noch Sterne am Himmel stehen und die Mächte des Lichts ganz denen der Finsternis ausgeliefert sind. Es ist der Zeitpunkt, an dem die Varuh die Erdoberfläche betreten, um uns in einer alles zerstörenden Schlacht zu vernichten. Wir alle müssen Opfer bringen, um sie davon abzuhalten! Denn dort, wo sie Schönheit erblicken, werden sie zuerst auftauchen, um sie aus der Welt zu tilgen.“

 

Bittere Galle stieg mir in die Kehle. In solch einer Nacht vor zehn Jahren hatte das flackernde Licht eines einzelnen Scheiterhaufens gebrannt. Ich schluckte angestrengt, bemühte mich, meinen Atem ruhig zu halten.   

 

Bardorack postierte sich vor dem Altar. „Diese erste Nacht“, rief er aus, „wird anders werden. Denn schon bald…“ Er schwieg und wartete. Seine dramatische Pause dehnte sich ins Unerträgliche. Plötzlich reckte er die Arme zum Himmel und schrie: „Wird ein Lichtträger zu uns herabsteigen!“ 

 

Erschrockene Rufe wurden Laut. Einige Menschen warfen sich wimmernd zu Boden, andere blieben starr und stumm in ihrer Angst. Ich konnte die Worte nicht begreifen. Ein Lichtträger in dieser schäbigen Gemeinde? Nie zuvor hatte ich eines der Wesen mit Flügeln aus Glas zu Gesicht bekommen. Es hieß, dass sie so schön waren, dass man bei ihrem Anblick erblindete.

 

„Der Lichtträger wird jedoch nur zu uns kommen, wenn wir uns als seiner würdig erweisen.“ Bardorack kniff die Augen zusammen und schlich auf die Gemeinde zu. Seine Stimme senkte sich zu einem bedrohlichen Flüsterton. „Seid ihr würdig, ihn zu empfangen?“

 

Nichts als Schweigen antwortete ihm. Der Priester beugte sich weiter vor, bis sein ohnehin krummer Rücken zu einem Buckel auswuchs, und rieb seine langen Hände aneinander. Ein Lächeln entstellte sein Gesicht. „Unter euch ist einer, der unrein ist.“ Ein knochiger Finger richtete sich auf die Gemeinde. „Sünde versteckt sich in diesen Reihen.“ 

 

Ängstliche Blicke, die eben noch auf den Priester gerichtet waren, wandten sich nun gegeneinander. Freunde und Familien machten sich bereit, einander zu verraten. Ich fürchtete, dass ich die Einzige war, die das zufriedene Grinsen sehen konnte, das über Bardoracks Gesicht zuckte.

 

Hungrig leckte er sich die Lippen. „Ja“, raunte er. „Wer von euch dient den Varuh? Wer von euch“, brüllte er, „ist mit ihnen im Bunde?“

 

Ich befahl meinem Herz, langsamer zu schlagen, doch es hörte nicht auf mich. Wie brennendes Gift sickerte die Angst durch meine Glieder, floss durch meine Adern und lähmte mich.  

 

Denn so begann es jedes Mal. So machten sich die Priester ihre Opfer gefügig, weil wir alle wussten: In drei Nächten würde der nächste Scheiterhaufen brennen. Und ich hatte den Ruf einer Elster vernommen. Vorboten des Todes, Verbündete der Varuh.

 

Niemand durfte sehen, was ich fühlte. Oft genug hatte ich es schon beobachtet. Zuerst streute Bardorack seine Anklagefloskeln wie Samen unter die Gemeinde und musste nur darauf warten, dass sie auf fruchtbaren Boden fielen. Jedes Mal war jemand vorgetreten und hatte unter Tränen seine Schuld gestanden oder falsche Anklage erhoben. Es war ein abgekartetes Spiel, ein totsicherer Weg, diejenigen auszusieben, deren Charakter zu schwach oder deren Angst zu groß war. 

 

Denn wer fühlte sich schon ohne Schuld und wer war nicht bereit, seine Nachbarn in den Schlund des Feuers zu stoßen, wenn es das eigene Überleben sicherte? Niemand.

 

Bardorack schlurfte in die erste Reihe. Sein weißes Gewand war mir so nahe, dass ich den Saum mit den Fingern hätte berühren können.

 

„Jemand ist mit den Varuh im Bunde“, wisperte er. Sein Blick schwebte über der Gemeinde. Wie der von Geiern, die nach Aas suchten. „Wer ist der Schandfleck, der sich anmaßt, sich im Angesicht des strahlenden Lichtes verbergen zu können? Wer glaubt, dass er seine Schuld leugnen kann?“

 

Ich bohrte mir den Daumennagel in die Handfläche. Der Schmerz gab mir ein wenig Klarheit und ich klammerte mich mit aller Kraft daran.

 

„Der Sünder ist ganz nahe“, flüsterte Bardorack so laut, dass ihn alle hören konnten.

 

Mir war, als könnte ich seinen faulen Atem riechen, und in dem Moment machte ich den Fehler aufzusehen.

 

Bardoracks Blick fand mich und hielt mich fest. Ein blitzartiger Schlag durchfuhr meine Glieder, ich spürte das Zuschnappen der Falle. Meine Mutter wimmerte. Blankes Grauen senkte sich über mich. Die Welt gefror und mit dem Eis kam die Gewissheit, dass ich verloren war.

 

Bardoracks Lippen formten meinen Namen, doch kein Laut drang aus seiner Kehle. Ich fühlte mich, als sei ich gefangen in einem gefrorenen Fluss.

 

Ein zitternder Lichtschimmer erschien auf Bardoracks Stirn. Als würde jemand einen Spiegel lenken, streifte der Schimmer über seine Lider und blitzte in seinen Pupillen auf. Bardorack kniff die Augen zusammen und blinzelte heftig.

 

Woher dieser Lichtschimmer kam war mir unerklärlich, aber er rettete mir das Leben.

 

Bardoracks Blick glitt von mir ab. Ich wäre vor Erleichterung zusammengesackt, doch der Schrecken saß so tief in meinen Gliedern, dass ich mich noch immer nicht regen konnte. Deshalb sah ich die Genugtuung, die in Bardoracks Augen aufflammte, als er ein anderes Opfer festnagelte.

 

Er kniete in der Reihe hinter mir. Ich konnte seinen rasselnden Atem hören.

 

„Tritt vor“, knurrte Bardorack.

 

Ein klappriger alter Mann stolperte an mir vorbei und brach vor den Füßen des Priesters zusammen.

 

Ich kannte Korrel, alle kannten ihn. Im vorigen Jahr hatte er seine Frau in einem Feuer verloren, als ein Blitz bei einem Sturm in ihr Haus eingeschlagen war. Sie waren kinderlos gewesen und nun war Korrel allein, mit dem Stigma der Schande versehen. Denn warum sonst sollte der Blitz seine Frau getötet haben?

 

Die Umstehenden machten keinen Hehl aus ihrem Entsetzen und ihrer Abscheu. Sie sahen einen Unreinen. Ich sah bloß einen harmlosen alten Mann, der mit den Kräften am Ende war, den das Dorf mied wie eine Krankheit und der von Schuldgefühlen zerfressen wurde.

 

Zitternd stand er da und wagte es nicht einmal, den Blick zu heben. Seine Knie waren dicke Knollen unter den Lumpen, die ihm als Kleidung dienten.

 

„Ich … ich habe geträumt“, gestand er mit dünner Stimme. „Die Mondgöttin kam zu mir. Sie war in das Blut der Unschuldigen gekleidet und bat mich um Hilfe. Ich schirmte meine Augen ab, aber sie schnitt durch meine Lider.“ Er rappelte sich auf. „Ich wollte sie nicht ansehen, das schwöre ich beim ewigen Licht, ich habe es nicht gewollt.“

 

Bardoracks Lippen bebten vor Abscheu. „Du warst schwach“, urteilte er erbarmungslos.

 

„Ja“, jammerte Korrel, „ich war schwach.“ Rotz und Wasser liefen in seinen Bart und tropften auf seine Lumpen. Er fiel zurück auf die Knie und heulte. „Vergebt mir, beim Lichte, ich war schwach!“

 

Wie auf ein stilles Kommando erhoben sich vier Männer aus den Reihen der Knienden.

 

„Sündern bleibt nur reinigendes Feuer!“ Das Urteil des Priesters schlug wie Sturmwellen über Korrel zusammen. In einer Geste der Verzweiflung wollte er sich Bardorack vor die Füße werfen, doch die Männer fingen ihn ab und überwältigten ihn. Fäuste flogen, als Korrel sich zur Wehr setzte und lauthals um Vergebung flehte.

 

Endlich fiel die Starre von mir ab. Ich fasste an meine Kehle, japste nach Luft. „Nein“, keuchte ich. „Lasst ihn los!“ Doch meine Stimme war zu schwach und ging in der Unruhe unter.

 

Ich ballte eine Hand zur Faust, machte mich bereit aufzuspringen, um die Männer von Korrels Rücken zu reißen.

 

Mit einem Schrei stürzte ich vor – und wurde jäh zurückgerissen. Ich starrte in das furchtzerfressene Gesicht meiner Mutter. Kalte Hände hielten mich an den Schultern, pressten meine Knie zurück auf die Bank.

 

„Wag es nicht“, zischte Arane. Blankes Entsetzen saß in ihren Augen.

 

Ich riss an dem Klammergriff, doch meine Mutter ließ nicht locker. „Lass mich gehen!“

 

„Bitte“, flehte Arane, kaum hörbar. Tränen traten in ihre Augen und rollten über ihre hohlen Wangen. „Ich darf dich nicht auch verlieren.“

 

Für einen Augenblick war ich so erschüttert, dass ich mich nicht mehr rührte, doch dann kam die Wut zurück.

 

„Ich will euch alle brennen sehen.“

 

Die Worte waren aus meinem Mund gekommen, doch ich erschrak vor meiner Stimme. Mehr noch erschrak ich vor dem, was ich soeben gesagt hatte.

 

Von allen Seiten blickten mich entsetzte Gesichter an.

 

„Was sagt sie?“, wisperte die Witwe Ranah, der alle Zähne fehlten.

 

„Sprich lauter, Cara“, rief es aus einer der hintersten Reihen und direkt neben mir.

 

„Wen will sie brennen sehen?“

 

Alle Augen waren auf mich gerichtet. Aranes Finger gruben sich in mein Fleisch, doch es waren ihre Worte, die mich retteten.

 

„Die Feinde des Lichtes“, zischte sie. „Meine Tochter will alle Feinde des Lichtes brennen sehen.“

 

Der Priester schlich zu mir heran. Sein Gesicht war so nahe an meinem, dass seine Hakennase mein Ohr streifte. Ich schauderte, wollte vor ihm zurückweichen, doch Aranes Klammergriff hielt mich fest.

 

Bardorack sog die Luft ein. „Ahhhh.“ Sein Atem war feucht an meiner Wange, schwebte wie ein Gifthauch durch die Reihen der Gemeinde. „Das ist guuut.“

 

Ich bebte am ganzen Körper. Ich fühlte mich beschmutzt, vergiftet und verlassen. Die Gesichter um mich waren hart. Müde sahen sie aus und misstrauisch wie Hunde, die man zu oft geschlagen hatte. Für Mitleid gab es in diesem Dorf keinen Platz. Jeder von diesen Menschen war froh, dass es nicht ihn getroffen hatte, und ich selbst konnte mich davon nicht ausnehmen. Feige war ich, nichts als feige. Die Welt verschwamm hinter dem Schleier meiner Tränen.

 

„Weint nicht um die Unreinen“, rief Bardorack, „denn sie werden vom Feuer erlöst!“ Er sprang zurück, breitete die Arme aus und lachte. 

 

Die Männer zerrten Korrel aus der Kirche hinaus. Der alte Mann hatte es längst aufgegeben, sich zu wehren. Schlaff hing er zwischen seinen Häschern. Sie würden ihn in der alten Scheune einsperren, wo er drei Tage darben musste, bevor sie ihn an Holz fesseln und den Flammen überlassen würden.

 

Kraftlos sank ich nieder und vergrub mein Gesicht in den Händen. 

 

„Geht nach Hause“, rief Bardorack triumphierend. „Das Licht hat gesiegt.“